emilieautumnl_296f21ffde63494e8268b800fb2e.jpgDie Anstalt bittet zum Tanz

Berlin / 08.02.10 im Postbahnhof: EMILIE AUTUMNs Welt ist ein Irrenhaus, oder zumindest inszeniert sie sie als solches: „The Asylum“ nennt die Künstlerin alles, was um sie herum passiert, eine Art Paralleluniversum für sie, ihre Fans und ihre Freundinnen.
Am 8. Februar gastierte die Anstalt in Berlin, denn die Erfinderin des „Victoriandustrial“ - einer ziemlich schrägen Mischung aus Gothic, Kabarett, Punk und historischer Kostümschau – lädt zum Tee. Das stimmt so natürlich nur halb, denn eigentlich ist ihr Auftritt ein Konzert. Er ist aber auch Performance, Bühnenkunst, Burlesque und Improvisationstheater. So bringt Emilie auch auf dieser Tour ihre „Bloody Crumpets“ mit, eine Handvoll Freundinnen, die sie bei der Show unterstützen, sei es als Background-Sängerinnen oder Handlangerinnen, als Tänzerinnen, Antagonistinnen – ganz genau weiß das niemand, aber was soll's. Spätestens wenn Naughty Veronica mit ihrer

sexy Burlesqueshow aufwartet, Blessed Contessa ihren Tee ins Publikum spuckt und Lady Aprella ihren Revolver zückt, sollte auch dem noch so unvoreingenommenen Zuschauer klar sein, dass EMILIE AUTUMN mit Publikumserwartungen und 08/15-Konzerten ziemlich wenig am Hut hat. Besonders Naughty Veronica kokettiert ganz nebenbei auch mit queeren Showeinlagen, holt sich zwei aufgeregte Mädchen zum Knutschen auf die Bühne und flirtet mit so ziemlich allem, was zwei X-Chromosome hat und in Sichtweite ist (natürlich auch mit Emilie und den übrigen „Bloody Crumpets“).

Die Zuschauerinnen und Zuschauer im Berliner Postbahnhof sind blutjung, stylish und auf die Reise ins „Asylum“ bestens vorbereitet. Das Korsett, Emilies Markenzeichen, das sie als Symbol für die viktorianische Unterdrückung der Frau parodiert, ist eine Art Leitmotiv im Publikum. Zuviel Rosa scheint nicht zu gehen, zuviel Schwarz schon gar nicht; dass einer von Emilies Songs „Gothic Lolita“ heißt, ist eben offensichtlich kein Zufall, sondern programmatisch. Es gibt viel zu sehen. Ist Emilie also Lifestyle, eine Stilikone? Vielleicht auch, aber vor allem ist sie eine begnadete Musikerin, die ohne Mühe alles in den Schatten stellt, wenn sie mit ihrer Violine allein auf der Bühne steht. Auch wenn diese Momente bei ihrem Gig in Berlin ganz schön rar sind. Dass sie all die Show und das Drumherum eigentlich nicht nötig hätte, macht sie als Musikerin aber nicht unglaubwürdiger, und sämtliche Theatereinlagen auf der Bühne täuschen nicht darüber hinweg, dass hier Talent und Exzentrik zu gleichen Teilen zusammenkommen. Die Konventionen irgendwelcher Musikakademien hat sie zu Gunsten ihrer Karriere als „Anarchy Violinist“ sowieso schon früh ignoriert.

Künstlerisch ist das Irrenhaus eine Sache, die schön anzusehen ist, ein bisschen gruselig, in etwa auf die selbe liebevoll verschrobene Art wie ein Tim-Burton-Musical. Die Parallelen zu Emilies Biographie sind dagegen nicht schillernd, nicht pompös, nicht geschönt: Die Musikerin verarbeitet so die Geschichte ihrer Krankheit – bipolare Störung, eine Erbkrankheit, die unter dem Namen manische Depression geläufiger ist. EMILIE AUTUMN war nach einem Suizidversuch selbst in der Psychiatrie, eine Zeit, die sie offenbar unheimlich geprägt hat. Was auf der Bühne passiert, ist nicht U-Musik, keine leichte Musicalunterhaltung mit einem süß-morbiden Beiklang, sondern immer auch bittere Gesellschaftskritik und ein Anprangern der inhumanen Zustände und Behandlungsmethoden, die in Psychiatrien bis heute praktiziert werden.

Wenn Emilie singend und tanzend – stilecht mit kabellosem „Britney Mic“ - in ihrem pinken Outfit auf der Bühne steht und begeisterte Fans tanzen und mitsingen, hat das etwas sehr Zynisches. Insbesondere, wenn man die Texte beachtet. „Dead Is The New Alive“ proklamiert ein Songtitel. Ein anderer lautet „The Art Of Suicide“ und stellt die Gretchenfrage: „Why live a life that's painted with pity and sadness and strife?“ Überhaupt sind so ziemlich alle großen Songs aus ihrem 2006er Geniestreich-Album „Opheliac“ auf der Setlist, selbst das großartige Cover von „Bohemian Rhapsody“ wird in der Zugabe noch performt. Ein schöner Ausflug ins „Asylum“ und nicht nur optisch ein Genuss!

TIPP:
Interviewstory in kommender Ausgabe #59!