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Ein Wochenende auf Indie Island!

 

Hamburg / 13.-15.08.2010: Am Ende war es der Regen, der den Endpunkt unter das Dockville 2010 setzte. Kurz, nachdem Jan Delay und die DISKO NO. 1 die große, HALLOGALLO2010 die kleine Bühne betreten hatten, konnten oder wollten die Wolken nicht mehr halten, was sie drei Tage mit sich rumgetragen hatten. Ein Sommergewitter der lauteren und feuchteren Kategorie teilte die Masse der FestivalbesucherInnen: in diejenigen, die sich vom Regen nach Hause schwemmen ließen – vielleicht auch ganz bereitwillig, nach drei anstrengenden Tagen – und diejenigen, die sich noch eine Weile an der Reling der MS Dockville klammerten und für die obligatorisch-hippieesken Bilder von Matschtänzen sorgten.

 

Davor lagen die drei Tage des Dockvilles auf der Elbinsel Wilhelmsburg, irgendwo zwischen Hafenarchitektur und von der Natur rückeroberten Brachen. Insgesamt um die 20.000 Besucher fanden den Weg dorthin, der größere Teil sicherlich aus Hamburg und dem direkten Umland, aber in seiner vierten


Auflage hat sich das Festival auch schon einen beachtlichen überregionalen Namen gemacht. Die Verantwortung dafür liegt sicher zu einem großen Teil beim Booking: Wie die Jahre zuvor konnten unterschiedlichste Verteter von der Kategorienspielwiese Indie an Bord gelockt werden. Vielleicht nicht zwei von jeder Art, aber schließlich sollten sich die Künstler auch nicht vermehren, sondern durch ihre Einzigartigkeit verzücken. Und wahrscheinlich gab es für jeden, der sich dieses Jahr auf dem Dockville tummelte, mehr zu entdecken, als die eine Band, für die man hauptsächlich gekommen war. Von den eindeutigen und massenkompatiblen Acts wie WIR SIND HELDEN am Freitagabend und JAN DELAY & DISCO NO.1 am Sonntag bis zu relativ unbekannten, experimentellen Geschichten wie DIE VÖGEL. Zwischen diesen beiden Polen – beziehungsweise zwischen Heck und Bug, um die Schifffahrtsmetaphern mal noch ein bisschen weiter zu strapazieren – tummelten sich all die großen und kleinen Stars des Indiezirkuses: FRISKA VILJOR,  KLAXONS, BOMBAY BICYCLE CLUB, DIE STERNE, JAMIE T oder PORTUGAL. THE MAN.

 

kitty_daisy_and_lewis_moritzWie es so ist bei Festivals einer gewissen Größe: alle Acts zu sehen ist unmöglich, und so sind auch Festivalberichte immer eine extrem subjektive Angelegenheit – selbst wenn man versucht, individuelle Faktoren wie Alkoholpegel, Müdigkeit oder Stimmungsschwankungen nachträglich auszublenden. Ich werde eine ganze Menge tolle Auftritte verpasst haben, habe mir manche Enttäuschung eingefangen und wurde ab und zu auch positiv überrascht. In letzte Kategorie passt sicher der Auftritt von DIE VÖGEL, die aus Mense Reets (EGOEXPRESS, GOLDENE ZITRONEN) und Jakobus Siebels (JAKÖNIGJA) bestehen. Dass ich sie bis Freitagnacht nur vom Hörensagen kannte, sollte mir zu denken geben, denn ich bin schon lange nicht mehr so von einem Musikstil umgehauen worden – und werde nun grandios beim Versuch der Kategorisierung scheitern: Elektronisches Grundgerüst, eher minimalistisch, man will Techno sagen, traut es sich aber nicht so recht. Darüber, dazwischen, dazu kommen dann aber Tuba, Posaune und ein buntes Was-weiß-ich-nicht-noch an Blasinstrumenten. Und sowas klingt dann im "Maschinenraum" des Dockvilles derart logisch zusammen, dass man sich wundert, dass noch niemand vor den beiden auf den Trichter gekommen ist.

 

Große Erwartungen konnte man dagegen von Anfang an an die Auftritte von BONAPARTE und KITTY, DAISY & LEWIS richten. Und beide haben mich in aber auch gar keiner Hinsicht enttäuscht. Das in Berlin basierte kosmopolitische Bandprojekt um Monsieur Bonaparte Tobias Jundt ließ am frühen Samstagabend die Hauptbühne hinter einem sureallen Panoptikum voller weißer Karnickel, Pestmasken und strippender Gafferbandmumien versinken, ohne jede Frage die aufwändigste und kreativste Bühnenperformance an diesem Wochenende. Was dabei immer wieder fasziniert: Die Bühnenshow lenkt nicht von Musik und Texten ab, sondern wird zu deren Katalysator.

 

Auch beim Londoner Geschwistertrio KITTY, DAISY & LEWIS fällt zuerst der Style ins Auge, bevor man vom musikalischen Können weggeblasen wird. Die drei treten ausschließlich im perfekten 50s-Look mit Tolle, Lackschuh und Anzug respektive knielangem Kleid auf und huldigen musikalisch dem frühen Rock'n'Roll und seinen Wurzeln in Swing und Blues.  All das bringen sie musikalisch absolut authentisch und gekonnt rüber und vermeiden es, eine Karnevalsveranstaltung aus dem Ganzen zu machen. Die drei meinen es ernst mit dem Rock'n'Roll, und man nimmt es mit ihnen mit Handkuss und Hüftschwung ab.

 

slime_jensDeutlich weniger enthusiastisch stand ich beim Auftritt von SLIME am Sonntag vor der Hauptbühne. Irgendwie hat da für mich nix zusammen gepasst. Der Großteil des Publikums kannte die reaktivierten SLIME (mit Axel von HASS an den Drums, Nici von den MIMMIS am Bass) wohl nur noch aus geflüsterten Hamburger Legenden um Hafenstraße und Straßenschlachten, ein paar Unerschütterliche pogten zwar auch ganz ordentlich, wie sich das gehört, aber im Großen und Ganzen hatte ich nicht den Eindruck, dass hier Funken großartig am Überspringen waren. Das wird auf der anstehenden Clubtour vor "eigenem" Publikum sicher anders aussehen.

 

Mein persönliches, kleines Highlight war aber ein Act, den ich sehr mag und auf den ich mich eh freute. Und eben der hat es geschafft, trotz aller vermeintlicher Widrigkeiten mir ein wunderbares Konzert zu bescheren. Auf den Sonntagnachmittag um kurz vor fünf war GUSTAV angesetzt. Und was habe ich denjenigen verflucht dafür, der sich das überlegt hatte. Sonntag ist doch eh alles schon ein bisschen müde, dann noch am Nachmittag, da kommt doch keiner hin... mir ist's ja auch zu früh. Pöbel pöbel, motz motz! Und dann kommt Eva Jantschitsch alias gustav2_jensGUSTAV mit Band (Elise Mory und Oliver Stotz) auf die Bühne – und alles wird gut. Eine strahlender Auftritt von wunderbar aufgelegten MusikerInnen, wie ein unerwarteter aber hochwillkommener Sonntagnachmittagsbesuch aus Österreich im heimischen Garten. Keine zwei Lieder und der Launepegel steigt, das Bier schmeckt auch wieder und wenn dann noch im "ersten deutschsprachigen Anti-Gentrifizierungssong, meines Wissens nach" (Zitat GUSTAV) auch noch das Ikea in Altona explodiert, hat sich alles wieder eingerenkt.

 

Stichwort Gentrifizierung: Auch dem Dockville wird vorgeworfen, die Gentrifizierung im als neuem In-Viertel auserkorenen Wilhelmsburg massiv voranzutreiben. Und ganz vekehrt ist das natürlich nicht. Ein Festival ist ein Festival, da gibt's lizenzierten Getränkeverkauf, da ist auch immer eine Portion Kommerz dabei und Menschen verdienen wahrscheinlich auch was dran. Auch wird das Viertel natürlich in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, nichts anderes wollen die Stadtplaner. Und das alles kann man kritisieren. Sollte man auch. Aber einige Punkte gibt es, die das Dockville im Vergleich mit anderen Veranstaltungen dieser Kategorie doch irgendwie besser zu machen frittenbude_moritzscheint. Zum einen geht das Dockville nicht nur drei Tage. Im Vorfeld des finalen Festivals findet schon ein mehrwöchiges KünstlerInnencamp auf dem Gelände statt, als Folge daraus eine kostenlose zehntägige Open-Air-Ausstellung auf dem Gelände, mit Abendprogramm in Form von Djs und Performances. Dazu kommt noch das Projekt Lüttville, ein kostenloses Kinderferienlager mit Kreativworkshops für die Kurzen, auf dem sie sich mit Pinseln und Spraydosen austoben können. Auch beim Festival fallen doch einige Details positiv auf, die mir so noch auf keinem anderen Festival untergkommen sind: Anwohnertickets für alle BewohnerInnen der angrenzenden Stadteile, die Tagestickets für ein Drittel des normalen Preises kaufen können, ein Kiosk auf dem Campingplatz, der kaltes Bier, Essen, Kondome etc. zu wirklich relativ fairen Preisen vertickt, eine Initiative namens Mitternachtsbus, die übriggebliebene Isomatten und Schlafsäcke sammelt und an Obdachlose verteilt. Ganz so schwarz-weiß ist's manchmal eben doch nicht.

 

TIPP: SLIME- und BONAPARTE-Interview im kommenden WAHRSCHAUER #59!



Fotos: Moritz Piehler, Jens Geiger