„John Sinclairs Mitwirken setzt die Sahnehaube auf unser Werk.“

 

bermondsey_clubSie verbinden Punk mit Blues, Blues mit Dichtkunst und tun all dies unter dem Mantel des guten alten Rock‘n‘Roll. Die Supergroup des britischen Punk, die BERMONDSEY JOYRIDERS, bestehend aus Gary Lammin (COCK SPARRER, THE LITTLE ROOSTERS), Martin Stacey (CHELSEA) und Chris Musto (Johnny Thunders, Joe Strummer, Glen Matlock…) bringen mit ihrem zweiten Album „Noise And Revolution“ ein Studiowerk heraus, das poetische Elemente mit echtem Punk verbindet.

Schon um 1977, als Sänger Lammin noch bei der Oi!-Legende COCK SPARRER die Klampfe schwang, hatte er einige Songs des Albums in der Schublade. Da er wusste, dass nur nach langen Diskussionen seine Songs im Set landen würden, blieben sie auf dem Speicher. Vor der Veröffentlichung stand eine fast 40-jährige „Orientierungsphase“, die anfangs zum Auszug aus der COCK-SPARRER-WG führte und mit dem Ankommen Garys 2009 in der Welt der BERMONDSEY JOYRIDERS im Hier und Jetzt endete. Das aktuelle Album klingt rotzfrech, ein gutes Punkbrett alter Manier. Die musikalische Erfahrung ist bei Songs wie „Right Now“ deutlich zu hören und Einflüsse wie THE WHO unverkennbar. Ihre britische Ausprägung zeigt sich durch Sprachfärbung und besonders in Songs wie „Proper English“ und „London Bridge“. „Noise And Revolution“ schafft es so, Dichtkunst und Punk zu vereinen, die unterhaltsamen Anekdoten John Sinclairs stimmen den Hörer auf neun der elf Stücke des Albums ein. Dies macht Genuss, viel Sinn und Spaß. Bei Sinclair handelt es sich nicht um den Geisterjäger, dessen Hörspiele euch den Schlaf rauben, sondern um den guten alten anarchischen John Sinclair aus Michigan - ehemaliger Chef der White Panther Party und Manager der legendären MC5. Der John Sinclair, der wegen zwei Joints zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde und wegen zahlreicher Proteste nur zwei Jahre absitzen musste. Im Interview sprachen wir mit Gary Lammin über Punk, Joe Strummer und natürlich das aktuelle Album.

WAHRSCHAUER: Würdest du „Noise And Revolution“ eher als dichterischen Punk oder als puren Punk beschreiben?

Gary: Es ist Punk. Die momentane Situation ist, dass Punk in ein sehr enges Gerüst passen muss, um als Punk gelten zu dürfen. Es scheint sich eine Art „Punk Rock Police Force“ gebildet zu haben, die die Entscheidungen trifft, was echter Punk ist und was nicht. Für mich ist das falsch. Dazu gehören die Leute, die herumlaufen und sagen: „Es ist kein Punk, weil es mit Dichtung verbunden ist.“ Diese Leute fallen besonders in England auf, sie tragen meistens T-Shirts von den SEX PISTOLS oder THE CLASH. Ich traf einmal einen Typen, der an seinem teuren BMW das Kennzeichen P77 UNK hatte. Echte Punks? Aber sicher…

W: Kannst du dir vorstellen, euer Album wäre 1977 veröffentlicht worden - das Jahr, dem ihr einen eigenen Song gewidmet habt?

G: Um ehrlich zu sein, habe ich ungefähr 1977 angefangen, Songs für das Album zu schreiben. Es sollte ein COCK-SPARRER-Album werden, aber sie hätten niemals ohne große Diskussionen etwas, das ich geschrieben habe, ins Set aufgenommen. Nachdem ich Malcolm McLaren (Manager der SEX PISTOLS) getroffen und ihm einige meiner Songs gezeigt hatte, kam er erstmals vorbei, um COCK SPARRER beim Proben zu sehen. Trotzdem wäre keiner meiner Songs ins Set gekommen, dachte ich. Egal, ein Meisterwerk wie „Noise And Revolution“ wäre mit COCK SPARRER nicht zustande gekommen.

W: Bist du immer noch unterwegs in den Clubs der Stadt, um zu trinken und Bands live zu sehen, wie du in „Shaking Leaves“ singst?

G: Das ist der einzige Ort, um Bands zu sehen, der Platz, an dem das Wesen der Musik real existiert. Sicher, wir alle wollen große Shows spielen, aber in kleinen Clubs lebt der wahre Geist der Musik.

W: Was dachtet ihr, als euer Song „Society Is Rapidly Changing“ 2011 zum Soundtrack der gewalttätigen Ausschreitungen in England wurde?

G: Es war, als sähe ich mein eigenes Spiegelbild beim Laufen in einer Ladenscheibe. „Society Is Rapidly Changing“ wurde eigentlich für Ausschreitungen geschrieben, die erst 2012 mit der Veröffentlichung des Albums stattfinden sollten. So war unser Song, der im Frühjahr 2011 aufgenommen wurde, eher eine Prophezeiung, als für einen Soundtrack bestimmt.

W: Wie würdest du deine musikalische Entwicklung zwischen der Zeit mit COCK SPARRER und den BERMONDSEY JOYRIDERS beschreiben?

G: COCK SPARRER war eine Band, in der ich zwischen meinem 17. und 20. Lebensjahr spielte. Zu dieser Zeit wusste ich nicht, warum ich eigentlich so wütend war, heute weiß ich warum. Die BERMONDSEY JOYRIDERS sind meiner Meinung nach eine viel fokussiertere, diszipliniertere und seriösere Version von COCK SPARRER.

W: Du hast John Sinclair zum ersten Mal getroffen, als du seine Poetry Sessions in diversen kleineren Kneipen musikalisch begleitet hast - wie war es, mit ihm zu arbeiten?

G: John ist ein fantastischer Poet. Es hat sehr viel Sinn ergeben, ihn für „Noise And Revolution“ ins Boot zu holen. Als wir ihm die Idee zum ersten Mal vortrugen, lachte er nur laut. Ich nahm dann meinen (ganzen) Mut zusammen und fragte ihn, warum er so laut lache, und er schaute mich nur an und sagte: „‘Noise And Revolution‘ ist ein Meisterwerk, und ich kann nicht verstehen, warum noch niemand bisher darüber nachgedacht hat, etwas in der Art zu machen.“ Als ich ihm Ideen für Texte zeigte, lachte er nur noch mehr und sagte: „Ja, das ist sehr lustig, aber wie wär es damit?“ Ohne John Sinclair wäre dieses Album immer noch super, aber sein Mitwirken setzt die Sahnehaube auf unser Werk.

W: Gab es in deiner Karriere einen absoluten Tiefpunkt?

G: Ja, nach dem Ende von THE LITTLE ROOSTERS, die vom großen Joe Strummer produziert wurden, und der Trennung von meiner langjährigen Freundin war der Tiefpunkt erreicht. Ich trank eine Flasche Cognac am Tag und fiel von einer Schlucht in die nächste. Eines Tages ging ich in einen Pub in der Wardour Street. Und als ich an einem jungen Pärchen vorbeikam, gaben sie mir eine Telefonnummer und sagten, ich solle sie um 8 Uhr morgens anrufen. Es war die Nummer eines Filmproduktionsbüros. Ich ging zu einem Casting, bekam eine Rolle, konnte all meine Schulden zurückzahlen, hörte auf zu trinken und, naja, jetzt bin ich hier.

W: Kannst du dich an ein Ereignis aus dem Sommer 1988 erinnern, als der WAHRSCHAUER erstmals erschien?

G: Ich habe einen Synthesizer in einem Musikladen zerstört. Danach wurde ich aus dem Shop geworfen und von ungefähr sechs Mitarbeitern ziemlich vermöbelt. Aber ich denke, ich habe ein Statement gesetzt.

Dieses Album macht Lust auf mehr, die BELMONDSEY JOYRIDERS transferieren erfolgreich Punkrock-Attitüde à la SEX PISTOLS und THE CLASH ins neue Jahrtausend. Wer auf knallig startende Songs hofft, sollte die ersten 30 Sekunden der von Sinclair besprochenen Titel skippen. Wer aber ein echter Punk ist, wird dies nicht tun, die rauchig angenehme Stimme gibt eine wunderbare Einführung und Punk lässt sich eben nicht in ein Raster pressen, sondern kann, darf, soll und muss anders sein, als man denkt. Langweilig wird die entspannt poetische Einführung von Titeln erst nach mehrmaligem Hören des Albums, weil es manchmal besser wäre, einige Songs abgekoppelt vom poetischen Erguss Sinclairs hören zu können. Mit diesem Album beweisen Lammin und seine Bandkollegen, dass Punk noch immer das ist, was er schon immer war: cool.