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CORGesellschaftskritik ohne Abi, Studium, Antifa


Wo soll ich anfangen? Die Band gibt es seit ungefähr 2002 und war schnell fester Bestandteil des WAHRSCHAUER. Es gab regelmäßige Interviews und Samplerbeiträge. Zum Beispiel 2005 mit dem Song „Frieden vs. Krieg“ vom Album „Freistil Kampfstil Lebensstil“ auf der CD zum Wahrschauer Nr. 51 oder „Aufstehn“ vom Album „Tsunami“ auf dem Sampler zum Heft 53 mit Friedemann als „Coverboy“. Eines der TOP-Cover des WAHRSCHAUER ever. Damals sogar noch stylisch und keine Extra-Kosten scheuend mit dem Titel als Silber-Folie. Das waren noch Zeiten!
Und warum diese spezielle Beziehung zu COR? Das lag klar an Friedemann:

Gewächs der Ostseeküste, 1975 auf Rügen geboren (und heute noch da lebend), Sohn einer christlichen Handwerkerfamilie und gelernter Maurer. Äußerlich fallen natürlich die vielen Tätowierungen auf, aber es geht nicht um die Optik, sondern immer um das Statement. Lemmy von MOTÖRHEAD auf der linken Brust ist so ein Beispiel. Auch wenn es dabei um Haltung geht, Klischees werden ihm nicht gerecht. So wie das Leben von Wahrschauer 53 neu2Lemmy war auch seins nicht Abi, Studium, Antifa. Beide kennen das Prekariat, dem COR 2007 ein gleichnamiges Konzeptalbum widmete, nicht aus dem Soziologie-Seminar. Doch wahrscheinlich ist Friedemann eine wesentlich komplexere Person: äußerlich rau, eine Aura voller Energie und gleichzeitig mit einem sensiblen Blick auf die Realität ausgestattet, frei, unabhängig denkend und mit dem emphatischen Willen ausgestattet der Welt den Spiegel vorzuhalten. Aus diesem rügener Holz sind nicht viele geschnitzt.


„Schmink dich ab, bevor du mit mir sprichst. Reiß deine Fassade runter und dann zeig mir dein Gesicht. Jede Narbe will ich lesen. Ich will sehen wer vor mir steht. Reiß dir die Deckung von der Seele.“ („Nackt“, 3. Song von „Friedensmüde“)

Musikalisch eingekleidet wird sein künstlerischer Drang in zwei Projekten: als Solo-Singer-Songwriter FRIEDEMANN und der HC-Band COR. Letztere haben nun ihr neues Album „Friedensmüde“ mit 11 Songs veröffentlicht. Seit 2005 veröffentlicht die Band alles auf ihrem eigenen Rügencore-Records-Label. Um es vorweg zu nehmen: COR bleiben COR. Zum einen musikalisch zwischen HC und Deutsch-Rock. Aber auch textlich stehen die zentralen Botschaften.

Das menschliche Gehirn ist ein Geschenk, dass zum eigenständigen Denken genutzt werden muss: „An allem ist zu zweifeln. Nichts steht ewig fest. Das ist die Pflicht der Jugend und ihr Recht.“ („Das Recht der Jugend“)

Auch ohne Abi, Studium, Antifa ist der gewohnt wachsame Blick von links auf den rechten Rand in „Mittelfingergruß“ ungetrübt und in „Friedensmüde“ kommt die empathische Spiegelung der Gesellschaft zur Entfaltung: „Was lässt man zu? Wo ist für uns der Schluss? Es ist die Frage aller Fragen, die man endlich klären muss. Reicht uns das jetzt? Wollen wir noch mehr? Wie hoch ist der Preis des Lebens. Was ist Überfluss uns wert? Denken wir an morgen, an den Fortbestand der Welt? Ist uns Kinderzukunft wichtig, oder nehmen wir doch lieber das Geld? Es geht um unsere Existenz, mit vollem Bauch können wir entscheiden. Leg doch mal kurz dein Smartphone weg! Wir fühlen uns verraten und verloren, wir sind so, wir sind so… vom Fressen so müde, vom Saufen so müde, vom Konsum so müde. Wir sind so schrecklich Friedensmüde.“


Oder: „Kaufen, verkaufen, sich am Dunkelrot des Konsums berauschen. Cool sein, nicht mehr so klein. Kleine, geile Maus muss aus dem Alltag raus.“ („Alle wollen geil“)

Da ist der „Endzeitmensch“ gleich um die Ecke: „Halte den Augenblick, er kommt nie mehr zurück, denn am Ende kommen Menschen und zerstören den Tag, mit ihrer Gier, dem Neid, der Wut und dem Hass. Und dir bleibt nichts als ihnen zuzusehen und sie zu ertragen, denn am Ende kommen Menschen und zerstören den Tag. Bring dich vor uns in Sicherheit, vor Unsinn-Sicherheit.“

Ja, wenn die Erde das könnte... Und mit dieser Verzweiflung könnte auch das Album enden. Aber Friedemann will darin zu Recht keinen Sinn sehen. Denn ohne Glauben ist die Zukunft schon verloren und so lässt er das Lied mit den Worten ausklingen: „Und am Ende kommen Menschen, die retten diesen Tag mit ihrer Liebe, ihrem Glauben, den nichts erschüttern kann. Ich weiß davon…“

Nein, Friedemann hasst die Menschen nicht, am liebsten würde er ihnen die Augen öffnen. Das sympathische ist, dass er den sensiblen Blick auch auf sich selbst und sein engstes Umfeld richten kann. Kehren wir deshalb am Ende der Review noch einmal zum ersten Song des Albums zurück. „Was man von hieraus sehen kann“ ist eine bittersüße und grandiose Rock-Ballade mit dem Blick in den Rückspiegel unserer Biographie. Die Schwermut des Älterwerdens wird im Video hervorragend optisch umgesetzt durch die Projektion von jahrzehntealten Jugendbildern auf ihre heutigen Gesichter: „Was man von hieraus sehen kann, mit schwerem Blick zurück, scheint heller als der Blick nach vorn, scheint einzig wahres Glück. Woran man sich erinnern kann, so gern aus vollem Herzen, ist frei vom grau und Finsternis und Bitterkeit und Schmerz. Kann die Vergangenheit von gestern ein zweites Mal vergehen? Können die Dinge, die Momente ein zweites Mal geschehen? Der Fluss des Lebens, könnte er uns noch einmal von der Quelle aus geleiten?“ Und am Ende nur noch die Wiederholung der Zeile „Ich bin so müde vom Warten auf nichts“, bis sich die Stimme im Wahnsinn überschlägt.


Wer kennt dieses Gefühl nicht, ab einem bestimmten Alter? Seit ich die Band kenne, haben sie mich jedes Mal mit ihren Werken abgeholt und emotional berührt. Das war jetzt nicht anders.

Fazit: COR haben geliefert!

Label: Rügencore Records
Band-Website: https://ruegencore.de/
Facebook: https://de-de.facebook.com/pages/category/Musician-Band/COR-Trashrock-for-Life-R%C3%BCgencore-235995448200/