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Nina_Hagen_Volksbeat_2011Trotz der hohen Jesusdichte kämpferisch, hoffnungsfroh, selbstbewusst und: lustig!

Es soll ja Menschen mit anerkannter Nina-Hagen-Allergie geben, und sicherlich kann man der Frau, wenn man denn möchte, so einiges vorwerfen. Zwei Dinge jedoch sicherlich nicht: Erstens, dass sie ihr Fähnlein nach dem Wind richten würde. Zweitens, dass sie nicht voller Überzeugung hinter dem stünde, was sie tut - wie albern das auch auf manche Menschen wirken mag.

Für mich persönlich sind das zwei Gründe, um Nina Hagen grundsätzlich sympathisch zu finden. Mit dieser Einstellung höre ich mir ihre Alben an. "Personal Jesus" etwa, den Vorgänger von "Volksbeat", der im deutschen Feuilleton für Erstaunen sorgte: bei den Lesern, weil Nina Hagen überhaupt mal wieder mit einem ihrer Alben im Feuilleton auftauchte. Bei den Feuilletonisten, weil sie überrascht feststellten, dass Nina Hagen ja eine tolle Stimme hat.

"Personal Jesus" war eine Sammlung von Coverversionen geistlicher Lieder, hauptsächlich Gospels, ein bisschen Blues, ein bisschen Pop. Die Hagen hatte endgültig zu Gott gefunden und sich unlängst taufen lassen, was das Album zu einer Art öffentlicher Konfirmation machte. "Personal Jesus" geriet mir aus einem anderen Grund ein wenig zu öde, der mit dem Grund, warum die Platte es ins Feuilleton schaffte, identisch ist:  der weitgehende Verzicht auf jedwedes Risiko. Ich hörte eine volle und gleichzeitig knarzige Stimme - ein einzigartiger Widerspruch in sich - die von einer etwas zu routiniert, zu professionell, zu überraschungsarm spielenden Band befriedet wurde.

Aber vielleicht war "Personal Jesus" auch ein notwendiger Schritt in Richtung "Volksbeat", mit dem Nina Hagen ihre ureigene Stimme (wieder)gefunden hat. "Volksbeat" ist voller christlicher Botschaften und dennoch ein völlig anders Album als "Personal Jesus". Es klingt wie ein Befreiungsschlag.

Volk ist bei uns in Deutschland ja leider so ein Begriff, der von vornherein verdächtig ist. Da klingt fast immer so ein "ohne Raum" mit. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Damals, vor der sogenannten Wende, als die große Mehrheit der Bevölkerung - "das Volk" - mal alle Meinungsverschiedenheiten für einen kurzen Zeitraum unter den Tisch fallen ließ, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen: Die Verbesserung der Verhältnisse in der DDR. "Wir sind das Volk" skandierten sie. V wie Volk, V wie Vendetta. Im gleichnamigen Comic/Film verbreitet Protagonist "V" seinen Leitsatz über die Massenmedien: "Ein Volk sollte keine Angst vor seiner Regierung haben - eine Regierung sollte Angst vor ihrem Volk haben."

"V"s Leitsatz zieht sich auch durch Nina Hagens Volksmusik, bzw.: "Volksbeat", bei der sie sich bei großen Volkssängern (Folksängern!), Volkstextern, Volksdichtern bedient. Es ist eine Rückeroberung, auch musikalisch. Eine Rückeroberung, die hier und da scheitern und manch einen mit ihren Glaubensbekenntnissen nerven mag, aber dennoch eine Rückeroberung, die risikofreudig und furchtlos ist.

"Volksbeat" beginnt mit einer musikalischen Verschmelzung zweier Antikriegsgedichte von Bertolt Brecht. "Bitten der Kinder/An meine Landsleute" ist frisch klingender Punkrock alter Schule, der an die besten Zeiten der frühen FEHLFARBEN erinnert. Beim WOLF-BIERMANN-Klassiker "Ermutigung" begleitet sich die Hagen allein auf der Akustik-Gitarre, und wenn das Vorgängeralbum "Personal Jesus" so nackt geklungen hätte, es wäre ein starkes Album geworden. "Ermutigung" schrieb Biermann, eine zeitlang Nina Hagens Ersatzpapa, unter dem Eindruck eines repressiven, diktatorischen Regimes, und es ist gespenstisch, wie sehr wir diese Ermutigung in unserer Demokratie heute nötig haben. "Wir sind das Volk!" dagegen, Musik offenbar von BEATSTEAKS-Gitarrero Bernd Kurtzke (die Plattenfirma hat nicht auf meine Nachfrage reagiert), prescht laut und wild nach vorne, skandiert den alten Schlachtruf gemeinsam mit einem Kinderchor. "Eure ganze Lebenslüge hat das Volk sooo satt" schleudert die Sängerin den Mächtigen entgegen und klingt dabei selbst so mächtig, dass man mitschreien möchte. Diese vier kleinen Worte: Wir. Sind. Das. Volk. - durch geschickte Geschichtspolitik zum Allgemeinplatz geworden, zum blutleeren Klischee geronnen. Nina erobert sie für uns zurück und gibt ihnen ihre ursprüngliche, subversive Bedeutung wieder. Denn WIR sind die 99 Prozent.

Bis hierhin könnte das alles zugegebenermaßen nach bitterernster Politikverdrossenheitsmusik klingen, doch sind die Texte nicht nur ernst, sondern vielmehr kämpferisch, hoffnungsfroh, selbstbewusst und: lustig. Trotz der hohen Jesusdichte sollte niemand den Fehler machen, die Hagen als humorlose Christenfundamentalistin abzustempeln. In der ins Deutsche übertragenen, groovy Rock&Roll-Nummer "Why Should The Devil Have All The Good Music"  ("Ick lass mir doch vom Teufel nicht...") des christlichen Rock-Sängers Larry Norman singt sie die schönen Zeilen: "Die sagen: Hagen halt die Fresse / wir haben kein Interesse / und ick plädiere und plädiere wie die jungen Pioniere" - ohne Zweifel, die Frau weiß genau, was sie tut, und sie ist zur Selbstironie fähig. Zwei Eigenschaften, die ihr in schöner Regelmäßigkeit abgesprochen werden.

"Ich bin" führt diese Selbstreflexion noch ein Stück weiter: "Ich bin zwischen Establishment und Etablissement, zwischen Sprechgesang und immer wieder Neuanfang." Das Lied hat trotz Halleluja-Refrain mehr Punk im kleinen Finger, als sich in >HIER BELIEBIGEN KÜNSTLER AUS DEN CHARTS EINSETZEN< gesamter Karriere findet.

Es ist bemerkenswert, welche Aufmerksamkeit die Sängerin jeder einzelnen Silbe zukommen lässt. Wie sie das bittersüße "Menschen sind kompatibel" mit  "sie sind dabei sehr flexibel" reimt - da klingen die ersten Silben wie Samt, der eine ungesunde Nähe zu feinem Schmirgelpapier entwickelt, während die unmittelbar darauffolgenden eine Tonlage höher förmlich ausgespuckt werden. Man fragt sich kurz, ob der Tontechniker hier geschickt zusammengeschnitten hat.

Gänsehaut erzeugt die eingedeutschte Coverversion von Solomon Burkes "None Of Us Are Free" ("Keiner von uns ist frei"), Martin Luther wird mit "Das 5. Gebot" Kurt-Weill-artig vertont. Das SEAL/ADAMSKI-Cover "Killer" erschließt sich mir nicht ganz, zum von Huxley und Orwell inspirierten "Soma Koma" finde ich bis jetzt keinen Zugang. Allein: Langweilig wird es nie, allenfalls ziemlich cheesy, im angekitschten "Nicht vergessen".

Was mich an "Volksbeat" so berührt, ist dieses Gefühl der Kompromiss- und Alternativlosigkeit, das es vermittelt, als ein Album, das ganz offensichtlich gemacht werden musste. Es ist zu weiten Teilen roh, ungeschliffen und direkt. Ein echtes Punkrockalbum, weil es auf alle Konventionen scheißt, weil es sich einen Dreck darum schert, was andere darüber denken mögen. Das den Mut zur Peinlichkeit hat. Vor dem Hintergrund von Wirtschaftskrise, Occupy-Bewegung, Überwachungsstaat und Spaltung der Gesellschaft ist es hochaktuell - und gleichzeitig zeitlos relevant.

Dabei trägt es den Kern des Scheiterns von vornherein in sich, denn - ganz ehrlich - wer hört Nina Hagen noch wirklich zu? Wen glaubt sie, mit der frohen Botschaft im Punkgewand zu erreichen? Für wen ist sie relevant? Die Sängerin ist sich dieser Fragen durchaus bewusst. In "Ick lass mir doch vom Teufel nicht..." singt sie nach dem oben begonnen Zitat weiter: "Aber keiner hört die Stimme/die denken Pfui Spinne/die Radiosender, die spiel'n det nich...". Aber ich spiel's! Seit Wochen! Und ertappe mich hin und wieder dabei, wie ich einen der Jesus-Songs leise vor mich hinsumme.

TIPP: Interview im WAHRSCHAUER # 59. Das nächste Interview ist geplant für die neue Ausgabe #61.

Polydor (Universal)

VÖ: 11.11.2011