Merkels Duckmäusertum ist Freibrief für Erdogans Willkürherrschaft
Der türkische Präsident Erdogan unterzieht sein Land einem Islamisierungskurs. Den vereitelten Putsch vom Juli nimmt der Staatschef zum Vorwand zur großen „Säuberungsaktion“, wie Massenentlassungen und Massenverhaftungen am Bosporus im reinsten Nazisprech offiziell genannt werden. Erdogan denkt langfristig. Durch die Neubesetzung zehntausender Lehrerstellen sichert sich seine regierende AKP den Zugriff auf die Köpfe der jungen Generation. Frei nach Gramsci geht es um langfristige Hegemonie.
Gegen seine Kritiker geht der Möchtegernsultan gegen mit immer rigideren Mitteln vor. Es vergeht kein Tag ohne Negativnachricht aus dem NATO-Mitgliedsland. Kommunalpolitiker und Bürgermeister der kurdischen HDP im Südosten der Türkei werden verhaftet, kritischeJournalisten weggesperrt, unbotmäßige Wissenschaftler und Künstler schikaniert. Über Jahre musste etwa der weltberühmte Komponist und Pianist Fazil Say vor Gericht seine Freiheit verteidigen. Sein „Verbrechen“: Er hatte im April 2012 die Gläubigen an der Staatsspitze des EU-Beitrittskandidaten mit einem Twitter-Tweet provoziert: „Ihr sagt, im Himmel fließen Bäche von Wein – ist das Paradies denn eine Kneipe für euch? Ihr sagt, auf jeden Gläubigen warten zwei Jungfrauen – ist das Paradies denn ein Bordell?“ Einen nur 22 Sekunden dauernden Gebetsaufruf eines Muezzins kommentierte der Musiker wiederum launig: „Warum so eine Eile? Hast du eine Geliebte, die auf dich wartet, oder einen Raki auf dem Tisch?“
Fazil Say wurde am 15. April 2013 gemäß des Volksverhetzungs-Paragrafen des türkischen Strafgesetzbuches zu einer zehnmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt – die Staatsanwaltschaft hatte sogar 18 Monate gefordert. Erst in diesem September wurde die Entscheidung des Berufungsgerichts wirksam und der Künstler endgültig vom Vorwurf der Blasphemie freigesprochen.
Das Vorgehen gegen Fazil Say ist für Sevim Dagdelen symptomatisch. Der Prozess war ein „regelrechtes Zeitzeichen, wie weit es in der Türkei auf dem Weg in eine islamistische Diktatur bereits gekommen war“, schreibt die Linke-Politikerin in ihrem gerade erschienenen Buch „Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft“. Beim Prozessauftakt im Herbst 2012 in Istanbul war sie als einzige Bundestagsabgeordnete zugegen. Der deutsche Botschafter wohnte dem Schauprozess nicht bei, später prangerte die Bundesregierung das Urteil gegen den Komponisten nicht an.
Wie ein roter Faden zieht sich die Kritik am Duckmäusertum der deutschen Regierung durch das Buch. Ermächtigung in der Causa Böhmermann, Distanzierung von der Armenien-Resolution, der Prozess gegen den Journalisten Can Dündar, Krieg gegen die Kurden – weil Deutschland den Autokraten in Ankara gewähren lässt, müssen Andersdenkende um ihre Freiheit und Sicherheit bangen, bringt das unbedingt zu empfehlende Buch Erdogans Wüten und Merkels Beitrag auf den Punkt. Sevim Dagdelen mahnt eine andere Türkei-Politik an und macht in ihrem Buch dazu auch konkrete Vorschläge. Unabdingbar ist, Demokraten wie Fazil Say, Cumhuriyet-Journalist Can Dündar oder Sharip Garo (www.solidaritaetsbrief.org), der seit acht Monaten an der Ausreise aus der Türkei gehindert wird, weil er einen Appell der „Akademiker für den Frieden“ unterzeichnet hat, dürfen nicht im Regen stehen gelassen werden.
Sevim Dagdelen: Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft. Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 224 Seiten, 18 Euro, VÖ 17.10.2016
Der türkische Präsident Erdogan unterzieht sein Land einem Islamisierungskurs. Den vereitelten Putsch vom Juli nimmt der Staatschef zum Vorwand zur großen „Säuberungsaktion“, wie Massenentlassungen und Massenverhaftungen am Bosporus im reinsten Nazisprech offiziell genannt werden. Erdogan denkt langfristig. Durch die Neubesetzung zehntausender Lehrerstellen sichert sich seine regierende AKP den Zugriff auf die Köpfe der jungen Generation. Frei nach Gramsci geht es um langfristige Hegemonie.
Gegen seine Kritiker geht der Möchtegernsultan gegen mit immer rigideren Mitteln vor. Es vergeht kein Tag ohne Negativnachricht aus dem NATO-Mitgliedsland. Kommunalpolitiker und Bürgermeister der kurdischen HDP im Südosten der Türkei werden verhaftet, kritischeJournalisten weggesperrt, unbotmäßige Wissenschaftler und Künstler schikaniert. Über Jahre musste etwa der weltberühmte Komponist und Pianist Fazil Say vor Gericht seine Freiheit verteidigen. Sein „Verbrechen“: Er hatte im April 2012 die Gläubigen an der Staatsspitze des EU-Beitrittskandidaten mit einem Twitter-Tweet provoziert: „Ihr sagt, im Himmel fließen Bäche von Wein – ist das Paradies denn eine Kneipe für euch? Ihr sagt, auf jeden Gläubigen warten zwei Jungfrauen – ist das Paradies denn ein Bordell?“ Einen nur 22 Sekunden dauernden Gebetsaufruf eines Muezzins kommentierte der Musiker wiederum launig: „Warum so eine Eile? Hast du eine Geliebte, die auf dich wartet, oder einen Raki auf dem Tisch?“
Fazil Say wurde am 15. April 2013 gemäß des Volksverhetzungs-Paragrafen des türkischen Strafgesetzbuches zu einer zehnmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt – die Staatsanwaltschaft hatte sogar 18 Monate gefordert. Erst in diesem September wurde die Entscheidung des Berufungsgerichts wirksam und der Künstler endgültig vom Vorwurf der Blasphemie freigesprochen.
Das Vorgehen gegen Fazil Say ist für Sevim Dagdelen symptomatisch. Der Prozess war ein „regelrechtes Zeitzeichen, wie weit es in der Türkei auf dem Weg in eine islamistische Diktatur bereits gekommen war“, schreibt die Linke-Politikerin in ihrem gerade erschienenen Buch „Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft“. Beim Prozessauftakt im Herbst 2012 in Istanbul war sie als einzige Bundestagsabgeordnete zugegen. Der deutsche Botschafter wohnte dem Schauprozess nicht bei, später prangerte die Bundesregierung das Urteil gegen den Komponisten nicht an.
Wie ein roter Faden zieht sich die Kritik am Duckmäusertum der deutschen Regierung durch das Buch. Ermächtigung in der Causa Böhmermann, Distanzierung von der Armenien-Resolution, der Prozess gegen den Journalisten Can Dündar, Krieg gegen die Kurden – weil Deutschland den Autokraten in Ankara gewähren lässt, müssen Andersdenkende um ihre Freiheit und Sicherheit bangen, bringt das unbedingt zu empfehlende Buch Erdogans Wüten und Merkels Beitrag auf den Punkt. Sevim Dagdelen mahnt eine andere Türkei-Politik an und macht in ihrem Buch dazu auch konkrete Vorschläge. Unabdingbar ist, Demokraten wie Fazil Say, Cumhuriyet-Journalist Can Dündar oder Sharip Garo (www.solidaritaetsbrief.org), der seit acht Monaten an der Ausreise aus der Türkei gehindert wird, weil er einen Appell der „Akademiker für den Frieden“ unterzeichnet hat, dürfen nicht im Regen stehen gelassen werden.
Sevim Dagdelen: Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft. Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2016, 224 Seiten, 18 Euro, VÖ 17.10.2016