Kopfnuss Verlag – VÖ: 22.09.2008 |
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Zuletzt aktualisiert am: 30. September 2008
Muss ich jetzt mein Wissen aus über zwanzig Semestern meines Studiums Neuerer Deutscher Literatur zusammenkratzen, um eine Buchkritik zu schreiben? Ich hoffe nicht. Ich selbst habe damals diese blühende Zeit meines mitteljungen Lebens stets angemessen eingeteilt, um zu arbeiten, zu lernen, zu feiern, zu feiern, zu feiern. Und trotzdem ist nichts aus mir geworden. Ich gebe zu, ich kokettiere. Doch werde ich über diese Zeit keine einzige Zeile schreiben. Ich sage einfach: Gras drüber.
Wenn aber über eine blöde Sache Gras gewachsen ist, kommt sicher ein Kamel gelaufen, das alles wieder runterfrisst. Stellt sich die Frage: Ist der Autor Alex Gräbeldinger ein leidsüchtiges Kamel oder ein dramasüchtiges Schreibtalent? In Berlin ist gerade zum zweiten Mal ein Kamel aus einem Zirkus ausgerissen, das bei seinem Ausflug gleich mehrere Passanten getreten und gebissen hat. Das tut weh. Beim Lesen von Gräbeldingers gesammelten Kolumnen rief ich ebenfalls „Au! Au! Au!“. Aber nicht aus Schadenfreude. Aus Mitleid! Und weil ich aus eigenem Erleben nachvollziehen konnte, wie viel und welches Leid hier in unterhaltsamer Manier festgehalten wurde.
Titel wie „Silvester feiere ich virtuell, Real Life ist sowieso scheiße“, „Wer ficken will, darf keine Körbe flechten“ oder „Heute New York, morgen Weltherrschaft, übermorgen Salzstangen und Rotwein“ versprechen wortgewandte Erzählausflüge in die Alp- und Traumlandschaften eines jungen Mannes. Die Leserschaft erfährt unmittelbar, ohne verschlüsselte Botschaften, von Liebe und Leid, Lust und Laster, Wollen und Nicht-Dürfen, Höhen und Tiefen des, nicht unbedingt sinnsuchenden, aber immer sympathischen Protagonisten. Einstiegssätze wie „Zehn Minuten vor Jahreswechsel muss ich kacken.“ sind nicht eklig, sondern Momente voller Intimität, die ich als Leserin gern mit meinem Erzähler teile. Auch eine Geschichte mit dem Titel „Weder GG Allin noch Sid Vicious wollen meine MySpace-Freunde sein“ handelt nicht nur vom „Saufen und Ficken“, wie in der Headline erwähnt, sondern zeigt die romantische Seite des Erzählers. Er will geliebt werden. Liebe ist der rote Faden, an den sich das wahre Leben hängt.
Die Leserschaft erlebt die Sturm- und Drangzeit eines Helden, der vielen Versuchungen erliegt und das eigene Schicksal kaum in die Hand zu nehmen weiß (außer zur oft erwähnten Selbstbefriedigung). Hilfe und Untergang bringen ihm, neben Drogen, Alkohol, zu viel Freizeit, Polizei, kaputten Autos, vor allem die Frauen. Als Schicksalsgöttinnen erscheinen weibliche Figuren wie Freundin, Ärztin, Zufallsbekannte, Oma oder Praktikantin, die dominant in sein Denken und Handeln eingreifen, aber nie seinen Lebensfaden abschneiden. Mit dem Motto „Hurra, ich lebe immer noch“ stürzt sich der lebensunlustige, aber nie lebensmüde, Held in immer neue Abenteuer.
Ich wurde beim Lesen von Gräbeldingers Geschichten wunderbar unterhalten. Mein stilles Lesen wurde oft von meinem lauten Lachen unterbrochen. In diesen Momenten spürte ich über meinem Oberkörper die zarten Bewegungen meines alten, schon etwas zerschlissenen, Feinrippshirts. Viva Punk, (m)ein Leben lang!
Tanka Ticker
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