Berlin / 18.11.2010: Seit 22 Jahren gibt es DRITTE WAHL aus Rostock. Ich kann mich noch gut an ihre ersten Konzerte erinnern. Nach der Wende, in Berlin. Als ich gerade mit dem Punkrockvirus infiziert wurde. Aus dieser Zeit sind nicht mehr viele Bands dabei. DRITTE WAHL schon. In ihrer Bandgeschichte haben sie sicher viele schöne Erlebnisse gehabt, aber mit der Krankheit und dann dem Tod von Basser & Sänger Busch´n waren nicht nur die Musiker an einem traurigen Tiefpunkt, auch die Szene war betroffen.
Mit Stefan wurde ein neuer Basser gefunden, der sich schnell in die Band integriert hatte und so ging es weiter. Kleine Clubs, große Festivals und alles dazwischen. DRITTE WAHL zogen ihr Ding weiter konsequent durch. Sie sind komplett unabhängig, haben ihr eigenes Label und eine Textildruckerei, buchen ihre Shows selber und sind irgendwie immer noch die netten Jungs von früher.
Nun steht mit "Gib Acht" das achte Album ab dem 5.11.2010 in den Regalen der Plattenläden eures Vertrauens. Es enthält 14 Songs und ist als CD im schönen Digipack und auch als LP erhältlich.
Mit Spannung hörte ich mir die Scheibe das erste Mal an, denn die Meßlatte war schon ziemlich hoch. Schließlich hatten sie in meinen Augen mit ihrem letzten Album, "Fortschritt", das bis dato beste Album veröffentlicht.
Nun habe ich „Gib Acht" schon ein halbes dutzend Mal gehört und weiß nicht, wo ich anfangen soll - so verschieden und intensiv sind die Eindrücke.
In den ersten acht Songs wird textlich mit wenig Worten viel gesagt. Dadurch wird man zum Nachdenken und zum Selbstreflektieren angeregt. Die Texte gehen unter die Haut. Sie provozieren, bringen teilweise nur Phrasen 'rüber (wie beim Titelsong "Gib Acht"), sind aber in sich immer schlüssig. Und sehr menschlich - eine Eigenschaft, die vielen Texten heutzutage fehlt. Man kann jeden Satz und jedes Wort nachvollziehen. Zu jedem Song ließe sich eine umfangreiche politische, soziale und kritische Erklärung schreiben. Zum Beispiel stellen die Songs "Das sieht gut aus" und "Wo ist mein Preis" den Egoismus der Menschheit und die Gier auf sehr simple und dennoch komplexe Weise dar. Sei es bei einer Konferenz, an die viele Menschen ihre Hoffnung setzen (wie z.B. die Artenschutzkonferenz oder die Klimakonferenz), bei der aber außer heißer Luft nichts raus kommt, weil persönliche Befindlichkeiten höher wiegen, als die Welt. Das ist traurig, deprimierend und macht wütend.
Dazu passt dann "Fliegen", bei dem Gunnar über seinen Wunsch singt, dass er fliegen möchte, um die ganze Scheiße hier unten nicht mehr zu sehen - ein nachvollziehbarer Gedanke. Warum gibt es Aussteiger? Genau deswegen!!
Fragen zum Leben und was man daraus machen sollte, kann oder muss, beantwortet "Aufhör´n kann ich gut". Hier kämpfen Wünsche und Träume vs. Gemütlichkeit und Trägheit. Es ist tatsächlich immer schwer, anzufangen zu kämpfen, sich durchzubeißen. Aber Teil der stummen Masse will dennoch keiner von uns sein! Für eben diese hatten DRITTE WAHL schon immer den Soundtrack für das Leben geschrieben, und das ist jetzt nicht anders.
"Gib Acht" ist ein kräftiges, abgeklärtes, menschliches und lebenserfahrenes Album. Es ist aber auch ein Album, das Mut gibt. Und den brauchen wir für diese schwierigen Zeiten, die gerade sind und die noch kommen werden. Oder wie es bei "Ich bin dafür" heißt:
- Ich bin dafür, dass wir uns endlich wieder regen
- Für den Versuch, etwas gemeinsam zu bewegen
- Damit sie unsere Wut und unsern Frust erkennen
- Sollen endlich Herzen und auch Barrikaden brennen
DRITTE WAHL sind nicht umsonst die bekannteste deutsche Punkband. Mit "Gib Acht" hat das Trio aus Rostock ein Werk geschaffen, das einen berührt und einen so schnell nicht mehr loslässt. Auf die nächsten Jahre, Gunnar, Krel und Stefan! Ihr seid wichtiger denn je!
TIPP: Interview mit DRITTE WAHL im nächsten WAHRSCHAUER#59!
(Dritte Wahl Rec. - VÖ: 5.11.10)