Berlin / 9.4. bis 11.4.2010 in der Volxbühne: attac lud zum Bankentribunal „weil die Krise System hat". So weit so gut. Diese Art der Veranstaltung ist zum ersten Mal vom britischen Mathematiker und Philosophen Lord Bertrand Russell 1966 in London durchgeführt worden. Damals war es
ein „Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal". Selbstverständlich verfügen diese Veranstaltungen über keine Mittel zur Durchsetzung ihrer Beschlüsse. Das wiederum verleit dem Rahmen den Charme eines inszenierten Theaterstücks mit vorbestimmtem Ausgang. Zweck der Übung ist, sich in unzähligen Diskussionsrunden (Beweisaufnahme genannt) den Anlass der Krise noch einmal zu erklären. Ja, schuld war die Deregulierung des Finanzsektors und die ist nicht vom Himmel gefallen, sondern von der Politik gestaltet worden.
Aber was soll's. Ich mach mich auf den Weg in die Volxbühne. Fünfzig Meter vom Eingang entfernt hat es sich ein Obdachloser in einer Ecke gemütlich gemacht und raucht genüsslich eine Zigarette. Drinnen wird die X-te Inszenierung eines alten Problems dargeboten. Kurzer Abriss nach Marx: Das Verhältnis zwischen variablem Kapital (Lohnkosten) zu fixem Kapital (Kapitalkosten) nimmt im Lauf der Zeit ab. Wegen Maschinen und so. Kurzer Abriss nach Keynes (im Ergebnis kommt das gleiche raus): Das System neigt zu einer zu niedrigen effektiven Nachfrage und kann dadurch die Produktionsfaktoren, wie Arbeit, nicht auslasten. Folge: Arbeitslosigkeit und sinkende Masseneinkommen. Die Politik setzt noch eins oben drauf und fördert durch Steuersenkungen eine ungleicher werdende Einkommensverteilung. Die Masse hat immer weniger Geld zum Ausgeben und die Unternehmen sehen kein Sinn mehr darin, in die Produktion zu investieren. Und den Rest der Geschichte kennt ja jeder: Das Geld weiß nicht mehr wohin und flüchtet in die Finanzsphäre. So, oder so ähnlich. Je nach Laune kann man das noch um einige Anekdoten bereichern, wie Finanzkrise und Griechenland. Dazu habe ich aber im Moment keine Lust. Hat ja jeder in den letzten Jahren miterlebt. Ich lausche stattdessen dem Tribunal, das gerade die Plädoyers spielt.
Der große Saal der Volxbühne ist komplett gefüllt. So ungefähr 800 Leute. Aber der Altersdurchschnitt ist ungefähr so hoch wie bei den Ostermärschen. Viel Rambazamba und Provokation ist hier nicht zu erwarten. Später im Urteil ist folgende Formulierung zu finden: „Dem Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, ist anzulasten, dass er seine gesamtwirtschaftliche Verantwortung nicht wahrnimmt und sich darauf beschränkt, die Gewinnmöglichkeiten seiner Bank zu maximieren." Da möchte man sofort schreien: „Habt ihr einen Knall?! Ich will nicht, dass Josef Ackermann für mich Verantwortung übernimmt! Ich will, dass die Deutsche Bank und die anderen Privatbanken verstaatlicht werden. Und dann übernehmen wir Verantwortung für die Herrn Ackermann! Damit mir wenigstens schon mal das Arschgeschwür des Kapitalismus nicht mehr das Leben schwer macht. Um den Rest der Bande müssen wir uns selbstverständlich auch noch kümmern." Alles andere ist naiver Reformkokolores, dessen Aktualität die Krise schon längst überrollt hat.
Im Roten Salon gibt es als Entschädigung später noch BELA B. und OLLI SCHULZ. Also erst mal ein Bier und warten. Da viele Teilnehmer der Veranstaltung bereits von Zivildienstleistenden zurück ins Altersheim gebracht worden waren, gab es auch keine Platzprobleme. Zuerst kommt OLLI SCHULZ auf die Bühne und erzählt erst mal endlose Geschichten. Später kommt BELA dazu. Sie verkünden, dass sie eigentlich nicht so gut drauf seien, weil sie sich Backstage nicht angemessen behandelt gefühlt haben. Dabei seien ihre Probleme wenigstens lösbar. Deshalb hätten sie heute Nachmittag spontan den Song „Champagnerfreaks" geschrieben, um ihre Botschaft rüber zu bringen, damit es nächstes Mal nicht wieder nur Sekt gibt. Rock'n'Roll funktioniert immer, besonders weil die beiden ihren Auftritt nicht sonderlich ernst genommen haben. Sie spielten lediglich schräge Coverversionen, wie zum Beispiel den Song „Staatsfeind" von CANAL TERROR als Akustikversion. Das Set war außerdem recht kurz. Klar, wahrscheinlich haben sie zur Unterstützung der Quatschbudenveranstaltung auf ihre Gage verzichtet. Trotzdem oder gerade deshalb verschaffte mir ihr Auftritt einen versöhnlichen Ausklang des Abends. Danach legte BELA noch auf. Nach ein paar Songs ließ ich ihn seine Solidaritätspflicht allein zuende bringen und verließ die Volxbühne. Draußen vor der Tür war der Obdachlose inzwischen eingeschlafen...
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