Wir sind Postpunk!
Berlin / 11.11.2009: „Gern wäre ich in der Lage, so gute Songs wie Ian Curtis zu schreiben“, sagte ich neulich zu einem sehr guten Bekannten. „Allerdings möchte ich nicht so früh wie er aus dem Leben scheiden.“ Der sehr gute Bekannte, der im Folgenden nur noch als „mittelgut bekannt“ bezeichnet wird, erwiderte: „Du kannst gar nicht mehr so früh aus dem Leben scheiden wie Ian Curtis, weil du fast schon doppelt so alt bist wie er, als er starb!“
Daraufhin machte sich ein kurzes, aber eisiges Schweigen breit, gefolgt von dem Vorhaben, in all den kommenden Jahren viel Spaß und interessante Erlebnisse unterzubringen. Dies ist auch an einem Spätsommertag bei dreiunddreißig Grad möglich, sogar an einen Ort, wo es wärmer ist als im Freien: ein Konzert. Ächz. Dennoch: Vorfreude – denn Brodie Dalles neue Band SPINNERETTE tritt im Columbiaclub auf.
Bei der Vorgruppe THE PICTUREBOOKS ist es durchaus erträglich. Die drei Jungs (Gitarre, Schlagzeug, Bass) erinnern musikalisch an DEATH FROM ABOVE 1979: dreckigster, geiler Rock. Am Merch-Stand ist in Erfahrung zu bringen, das sie nicht aus Amerika sind, wie ich zuerst dachte, sondern aus Deutschland. Neben der Musik ist auch das Outfit interessant: karierte Hemden und Jeans, der Drummer jedoch im Fred-Perry-Polo, was aufgrund der Langhaarigkeit aller Bandmitglieder interessant ausschaut. Diese Teile haben sich von der Negativreputation während der Neunziger ganz gut erholt. Sie werden so gut wie gar nicht mehr von Rechten getragen, da diese wohl kaum Lust haben, die gleichen Klamotten anzuziehen wie coole Musiker: der global agierende Damon Albarn, die antifaschistischen LOS FASTIDIOS sowie Schwule aus allen Kontinenten.
Zu beanstanden ist Folgendes: das Publikum steht versteinert rum und kuckt „verstört“, wie die Sängerin von DAS BIERBEBEN einige Wochen davor beim eigenen Gig im Maria kritisiert hatte. Bei einer so spannenden und energetischen Band wie THE PICTURE BOOKS (und bei DAS BIERBEBEN natürlich auch) ist das unverständlich und ignorant.
SPINNERETTE haben ganz andere Sorgen, nämlich in Form von Krankheit, die einigen Bandmitgliedern und auch Sängerin Brodie zu schaffen macht. Sie kündigt das gleich zu Beginn des Konzerts an und ergänzt: „We don´t play encore tonight – don´t be upset.“ Der Gig ist nicht besonders euphorisch, was absolut verständlich ist, und es verdient Respekt, das SPINNERETTE den Auftritt nicht abgesagt haben. Hut ab: trotz Kranksein eine Stunde zu singen, schreien, Instrumente spielen und unter gleißendem Scheinwerferlicht einen vollbesetzten Raum mit Fans zu unterhalten verdient großen Respekt.
Brodie trägt simple Klamotten: schwarze Hose, weißes weites T-Shirt. Interessant ist der Kontrast zum Publikum, in dem sich eine recht hohe Zahl aufgedonnerter Mädchen befindet, die alle aussehen wie Mrs. Dalle vor ungefähr zehn Jahren. Mir kommt Siouxsie in den Sinn, die in ihrer Biographie erzählt, wie schockiert sie war, als sie bei den Gigs in den Achtzigern von der Bühne auf ein Heer von Lookalikes schaute und meinte, das sei nun wirklich nicht der Sinn der Sache gewesen.
Von SPINNERETTE kommen „Sexbomb“, „Ghetto Love“ und der letzte, spannende Track „Prescription for mankind“ am besten an, Das Lied gefällt unter Anderem, weil es sämtliche Erwartungen an Punk- und Pop-Korsette hinter sich lässt. Am besten gefällt mir die Single „Baptized by fire“, die an gute Popzeiten sowie an BLONDIE erinnert: ein musikalisch schöner Teil der Achtziger, als es in den Charts teilweise richtig gute Musik und nicht nur kalkulierte C-Ausgaben von Musik für ganz und gar verblödete Privat-Sender-Dauerglotzer und Klingelton-Abonnenten gab.
Am ersten September-Wochenende findet (wie letztes Jahr auch schon) in der Nähe von London im Wald das Offset-Festival statt, welches sich hauptsächlich Post-Punk, Hardcore, Indie und Experimentalmusik widmet. Das Konzept des Festivals: es werden Bands „von früher“ eingeladen, die noch oder wieder aktiv sind (wie THE SLITS oder Damon Suzuki von CAN) sowie neue Bands, die von diesen beeinflusst wurden. So kommen 180 Namen für zwei Tage auf einer Haupt- sowie vier Nebenbühnen zusammen. Gern folge ich der Einladung von Freund Thomas, da nicht nur er, sondern auch London und Postpunk-Festivals sowieso mir ans Herz gewachsen sind. Über London wird ständig behauptet, es sei total teuer. Dieses ständig strapazierte Vorurteil will und kann ich nicht teilen. Die interessante halbstündige U-Bahn-Fahrt zum Festival (spannend, da meist ober- statt unterirdisch) kostet 1 Pfund 10, was in etwa 1,25 Euro sind, alle relevanten Neuerscheinungen aus dem so genannten Independent-Bereich sind für 10 Pfund auf CD und für 11 Pfund auf Vinyl zu haben, und für ein Mittagessen beim Pakistani wandern gerade mal 2 Pfund über die Theke (inklusive klebriges aber leckeres Kaltgetränk). Wenn sich die Leute am Picadilly-Circus einen matschigen Döner für 6 Pfund kaufen, und ebendort mit dem Taxi in eine angesagte, aber spießige Disco gehen, denke ich: selbst schuld. Das gleiche gilt selbstverständlich für Berlin: jeder, der seine fünf bis sieben Sinne beisammen hat, wird Orte wie die Friedrichshainer Simon-Dach-Straße oder die auf schnellen Kommerz und noch schnelleren Sex gebürstete Oranienburger Straße meiden und Orte aufsuchen, die jetzt noch interessant sind, ehe sie dem Gentrifizierungs-Schreckgespenst vor die Sense geraten.
Die Location des Offset-Festivals ist sehr schön gelegen. Nach der bereits erwähnten U-Bahn-Fahrt geht es mit einem Bus oder zu Fuß ein Stückchen weiter, bis nichts mehr zu sehen ist außer Wäldern, Wiesen und einem See. DAS gehört noch zum Stadtgebiet London? Ist ja interessant… hier sagen sich Fuchs und Reh und Krähe gute Nacht…. sind es die artigen Viecher aus alten Fabeln oder die nicht-so-freundlichen aus Lars von Triers genialem „Antichrist“-Film? Werde ich im Wald umherirren und auf sprechende Tiere treffen, die den kurz zuvor stattgefundenen OASIS-Split kommentieren? Dankbarerweise griff niemand von den Leuten auf dem Festival dieses öde Thema auf.
Ohne Umschweife kommen wir gleich zu PULLED APART BY HORSES – Lieblingsband und Neuentdeckung. Die Musik: ein energetisches Bündel aus Indie, Punk, HC, McLUSKY und MUDHONEY. Die Band: vier Typen, die komplett wahnsinnig wirken, während des Gigs auf die Lautsprechertürme klettern, sich ausziehen, rumspucken und Flaschen durch die Gegend feuern. Der Pogo-Mob vor der Bühne wird zum unbändigen Monstrum. Menschen, denen eine exzessive Bühnenshow wichtig ist, werden an dieser neuen Band aus Leeds ihre Freude haben. Da haben PULLED APART BY HORSES doch glatt der Band die Show gestohlen, die nach ihnen auftritt und denen ich am meisten entgegen fiebere: FUTURE OF THE LEFT, zu zwei Dritteln bestehend aus der leider verblichenen und sehr genialen Band McLUSKY. FUTURE OF THE LEFT brachten vor einer Weile nicht nur ihr zweites, sondern auch ihr bestes Album „Travels with myself and another“ heraus. Keine Frage, sie spielen perfekt ihre spannenden und energetischen neuen Werke, neuerdings benutzt Sänger Andy Falkous auch ein Keyboard, welches zum Punk- und Krach-Instrument mutiert.
Wenige Wochen später spielen beide Bands in der gleichen Reihenfolge im Berliner Magnet, und auch hier gefällt mir PULLED APART BY HORSES wieder besser: die Grenze zwischen Bühne und Publikum wird aufgehoben. Sänger Tom flitzt wieselartig im Raum umher und schüttet mich mit Selters voll – na so ein Ferkel. Wäre ich nicht zur Seite gewichen, würde ein Gitarrenhals in meinem Gehirn stecken.
Wie die Bühnen-Aussage von FUTURE OF THE LEFT-Sänger Andy zu werten ist, dass sie PULLED APART BY HORSES lediglich mit auf Tour genommen haben, damit die „skinny“ (uk: ganz dünnen) Jungs mal was Vernünftiges zu essen kriegen, wird im kommenden WAHRSCHAUER-Magazin #58 zu lesen sein, denn dort befindet sich ein Interview mit FUTURE OF THE LEFT.
Aber zurück nach London: aus Glasgow sind DANANANAYKORYD angereist, eine Band mit sechs Mitgliedern, die sich dem Post-Hardcore verschrieben haben. Ihr Tourplakat ist im Trainspotting-Look aufgehübscht. Ansonsten mögen sie wohl FUGAZI und guten Indiepop und bestechen durch penetrant gute Laune und einen etwas eigenartigen Humor. Die Ansagen während des Gigs sind dermaßen verglasgowt, dass nicht nur Briten, sondern auch von weit dahergelaufene Hanseln wie ich nüscht vastehn.
THE XX wirken wie eine verlangsamte, nächtliche, halluzinogene Version von schöner Achtziger-Indie-Musik. Die verschleppten Gitarren gefallen genau so gut wie das hypnotische Schlagzeug und der abwechselnd männliche und weibliche Gesang von Oliver und Romy. Gehypt vom Musik-Zugpferd des Königreiches ist erst mal Skepsis geboten, doch in diesem Fall stellt sich spätestens nach dem Auftritt auf diesem Festival heraus: dieses Mal ist es angebracht. THE XX werden verdienterweise erfolgreich werden - die ersten Vorboten gibt es: der Berliner Oktober-Gig im Lido war im Vorfeld längst ausverkauft, was ebenfalls für die gesamte UK-Tour zutrifft.
THE SLITS sind legendär und Frontfrau Ari sieht nach wie vor spitze aus, was Haltung, Aussehen, Kleidung und Präsenz betrifft. Den Gig finde ich so mittel. Viele der neuen Bands, welche sich an den zweifellos sehr wichtigen THE SLITS orientieren, sind handwerklich viel versierter und schreiben bessere Songs. Macht nichts – dies war nie das Anliegen der Band. Wichtiger ist ihre tragende Rolle in der Emanzipation von Frauen in der nach wie vor von Männern beherrschten Bastion Unterhaltungsmusik mit Stromgitarren. Diese Jahr erschien eine Biographie der Band (bis jetzt lediglich in englischer Sprache) und ein neues Album, das erste nach 25 Jahren (Label Sweet Nothing).
Damon Suzuki von CAN spielte ein experimentelles Set mit befreundeten Musikern. Thomas ist begeistert, ich bin etwas ratlos. Bewusst über die Präsenz eines legendären und stilprägenden Musikers auf der Bühne fehlt mir Konzept und Songstruktur, und ich gehe lieber zu einer anderen Bühne, um THE RAYOGRAPHS anzuschauen. Diese Band besteht aus drei Frauen namens Astrud (Gitarre/Gesang), Jessamine (Bass/Gesang) und Amy (Drums). Bei ihrem Gig ist leider nicht so viel los, aber sie können absolut überzeugen durch gute Songs, die teilweise an THE BREEDERS mit einer dunkleren Note, aber auch an die WHITE STRIPES erinnern. Schön ist die stilvolle, zeitlich nicht zu verordnende Kleidung, die wirkt wie ein Arrangement aus Ironie, Zitatpop und (alternativem) Sexappeal.
Die Headliner THE HORRORS empfinde ich als New-Wave-Goth-Rock-Zitat-Kindergarten, bei dem kein Funke in mir auflodert. Den jüngeren Leuten im Publikum gefällt es gut. Ähnlich geht es mir mit THE FUTUREHEADS. Wieso eine langweilige Kopie von guten Originalen anschauen? Es gibt genug neue und spannendere Bands auf dem Festival…
Zwei Nächte nach dem Festival träume ich, das der Fuchs aus „Antichrist“ auf mich zuläuft und mir in die Augen schaut. Anstatt seines schönen Filmzitats „Chaos reigns!“ sagt er: „Wir sind Postpunk!“ Das hatte ich mir aber eh schon gedacht…
Ich will für ein paar Momente nicht mehr atmen
Ob Punk oder Oldschool-Indie, Techno oder Hardcore: was auch immer auf meinem Plattenteller stattfand, es gab wenige Konstanten in den vielen Jahren meiner Musikbegeisterung. Eine davon sind die BOXHAMSTERS. Alle paar Jahre erscheint eine sehr gute Platte (Ausfälle gab es nie), Konzerte sind eher selten und ebenfalls verlässlich gut. Außerdem gehören die Songs dieser Band zum Leben wie langjährige Freunde. Das neue BOXHAMTERS-Werk „Brut Imperial“ ist draußen, und Mitte September spielen in der Moritzbastei in Leipzig die vier Giessener (nicht zum ersten Mal) mit der Berliner Band GRIZOU. Diese sind gerade dabei, zwei Split-Singles mit ebenso interessanten Bands aufzunehmen, und ein neuer, genau so kurzer wie interessanter Song namens „Shoppingparadies Welt“ hat es ins Set geschafft. Wenige und eher kurze Ansagen von Sänger André finden Gehör, es ist ein bisschen später als geplant geworden, der Gig ist knackig und richtig gut – die inzwischen relativ regelmäßigen Konzerte von GRIZOU lassen inzwischen eine gut rüberkommende Live-Routiniertheit erkennen.
Die Boxis spielen Klassiker wie „Zu klein“, „Große Augen“, „Beende Deine Jugend“, „Armer König“ und „Klostein“ - dazwischen werden Songs vom neuen Album gestreut. Lieder wie „1982“, „Herzigel“ und „Schluchtenflitzer“ bereiten Freude, und „Mogli“ ist möglicherweise der beste BOXHAMSTERS-Song aller Zeiten – im Moment geht es mir damit jedenfalls so. Im Leipziger Konzert ist dieser geschickt als erste Zugabe platziert. Das lange Lied hat nach ungefähr zwei Dritteln einen sehr guten, atmosphärischen und dramaturgisch interessanten Instrumentalteil. Der Übergang während des Konzerts fühlt sich an wie eine Stelle aus „The Matrix“: die Zeit blieb für ein paar Momente stehen, ich kann oder will für ein paar Momente nicht mehr atmen.
Co ist einer der wenigen Leute (außer ihm fällt mir noch Andreas Löhr ein) der einen Text schreiben kann, in dem Sätze wie „Du hast ein Herz aus Gold“ drin vorkommen, und das ganze wirkt nicht peinlich oder pathetisch, sondern großartig. Obwohl das Album „Brut Imperial“ noch recht jung und unschuldig ist, bin ich schon jetzt ganz hibbelig in Erwartung neuer Songs, die mit Sicherheit in einigen Jahren kommen werden…
Dieser Artikel wurde gerade auf dem Balkon beendet. Es ist Herbstanfang, und über Berlin ist ein wunderschöner dunkeloranger Abendhimmel zu sehen. Schnell hab ich dem mittelguten Bekannten eine Nachricht geschrieben, er soll seinen Hintern an die frische Luft bewegen, weil er sonst etwas verpasst. Er wohnt dreißig Meter Luftlinie entfernt, und ich finde es toll, ihn ohne eigenes Aufstehen von Weitem durch die Gegend dirigieren zu können: wie einen ferngesteuerten Spielzeug-Roboter, dessen unökologische Riesen-Batterien ständig leer sind.
Aufgrund des letzten Satzes hat der mittelgute Bekannte gesagt ich könne was erleben. Was dem anfangs besprochenen Lebensplan folgt.
Punk and the City Kolumne 3: FRITTENBUDE
Punk and the City Kolumne 2: FARIN URLAUB RACING TEAM
Punk and the City Kolumne 1: 1000 ROBOTA
Berlin / 11.11.2009: „Gern wäre ich in der Lage, so gute Songs wie Ian Curtis zu schreiben“, sagte ich neulich zu einem sehr guten Bekannten. „Allerdings möchte ich nicht so früh wie er aus dem Leben scheiden.“ Der sehr gute Bekannte, der im Folgenden nur noch als „mittelgut bekannt“ bezeichnet wird, erwiderte: „Du kannst gar nicht mehr so früh aus dem Leben scheiden wie Ian Curtis, weil du fast schon doppelt so alt bist wie er, als er starb!“
Daraufhin machte sich ein kurzes, aber eisiges Schweigen breit, gefolgt von dem Vorhaben, in all den kommenden Jahren viel Spaß und interessante Erlebnisse unterzubringen. Dies ist auch an einem Spätsommertag bei dreiunddreißig Grad möglich, sogar an einen Ort, wo es wärmer ist als im Freien: ein Konzert. Ächz. Dennoch: Vorfreude – denn Brodie Dalles neue Band SPINNERETTE tritt im Columbiaclub auf.
Bei der Vorgruppe THE PICTUREBOOKS ist es durchaus erträglich. Die drei Jungs (Gitarre, Schlagzeug, Bass) erinnern musikalisch an DEATH FROM ABOVE 1979: dreckigster, geiler Rock. Am Merch-Stand ist in Erfahrung zu bringen, das sie nicht aus Amerika sind, wie ich zuerst dachte, sondern aus Deutschland. Neben der Musik ist auch das Outfit interessant: karierte Hemden und Jeans, der Drummer jedoch im Fred-Perry-Polo, was aufgrund der Langhaarigkeit aller Bandmitglieder interessant ausschaut. Diese Teile haben sich von der Negativreputation während der Neunziger ganz gut erholt. Sie werden so gut wie gar nicht mehr von Rechten getragen, da diese wohl kaum Lust haben, die gleichen Klamotten anzuziehen wie coole Musiker: der global agierende Damon Albarn, die antifaschistischen LOS FASTIDIOS sowie Schwule aus allen Kontinenten.
Zu beanstanden ist Folgendes: das Publikum steht versteinert rum und kuckt „verstört“, wie die Sängerin von DAS BIERBEBEN einige Wochen davor beim eigenen Gig im Maria kritisiert hatte. Bei einer so spannenden und energetischen Band wie THE PICTURE BOOKS (und bei DAS BIERBEBEN natürlich auch) ist das unverständlich und ignorant.
SPINNERETTE haben ganz andere Sorgen, nämlich in Form von Krankheit, die einigen Bandmitgliedern und auch Sängerin Brodie zu schaffen macht. Sie kündigt das gleich zu Beginn des Konzerts an und ergänzt: „We don´t play encore tonight – don´t be upset.“ Der Gig ist nicht besonders euphorisch, was absolut verständlich ist, und es verdient Respekt, das SPINNERETTE den Auftritt nicht abgesagt haben. Hut ab: trotz Kranksein eine Stunde zu singen, schreien, Instrumente spielen und unter gleißendem Scheinwerferlicht einen vollbesetzten Raum mit Fans zu unterhalten verdient großen Respekt.
Brodie trägt simple Klamotten: schwarze Hose, weißes weites T-Shirt. Interessant ist der Kontrast zum Publikum, in dem sich eine recht hohe Zahl aufgedonnerter Mädchen befindet, die alle aussehen wie Mrs. Dalle vor ungefähr zehn Jahren. Mir kommt Siouxsie in den Sinn, die in ihrer Biographie erzählt, wie schockiert sie war, als sie bei den Gigs in den Achtzigern von der Bühne auf ein Heer von Lookalikes schaute und meinte, das sei nun wirklich nicht der Sinn der Sache gewesen.
Von SPINNERETTE kommen „Sexbomb“, „Ghetto Love“ und der letzte, spannende Track „Prescription for mankind“ am besten an, Das Lied gefällt unter Anderem, weil es sämtliche Erwartungen an Punk- und Pop-Korsette hinter sich lässt. Am besten gefällt mir die Single „Baptized by fire“, die an gute Popzeiten sowie an BLONDIE erinnert: ein musikalisch schöner Teil der Achtziger, als es in den Charts teilweise richtig gute Musik und nicht nur kalkulierte C-Ausgaben von Musik für ganz und gar verblödete Privat-Sender-Dauerglotzer und Klingelton-Abonnenten gab.
Am ersten September-Wochenende findet (wie letztes Jahr auch schon) in der Nähe von London im Wald das Offset-Festival statt, welches sich hauptsächlich Post-Punk, Hardcore, Indie und Experimentalmusik widmet. Das Konzept des Festivals: es werden Bands „von früher“ eingeladen, die noch oder wieder aktiv sind (wie THE SLITS oder Damon Suzuki von CAN) sowie neue Bands, die von diesen beeinflusst wurden. So kommen 180 Namen für zwei Tage auf einer Haupt- sowie vier Nebenbühnen zusammen. Gern folge ich der Einladung von Freund Thomas, da nicht nur er, sondern auch London und Postpunk-Festivals sowieso mir ans Herz gewachsen sind. Über London wird ständig behauptet, es sei total teuer. Dieses ständig strapazierte Vorurteil will und kann ich nicht teilen. Die interessante halbstündige U-Bahn-Fahrt zum Festival (spannend, da meist ober- statt unterirdisch) kostet 1 Pfund 10, was in etwa 1,25 Euro sind, alle relevanten Neuerscheinungen aus dem so genannten Independent-Bereich sind für 10 Pfund auf CD und für 11 Pfund auf Vinyl zu haben, und für ein Mittagessen beim Pakistani wandern gerade mal 2 Pfund über die Theke (inklusive klebriges aber leckeres Kaltgetränk). Wenn sich die Leute am Picadilly-Circus einen matschigen Döner für 6 Pfund kaufen, und ebendort mit dem Taxi in eine angesagte, aber spießige Disco gehen, denke ich: selbst schuld. Das gleiche gilt selbstverständlich für Berlin: jeder, der seine fünf bis sieben Sinne beisammen hat, wird Orte wie die Friedrichshainer Simon-Dach-Straße oder die auf schnellen Kommerz und noch schnelleren Sex gebürstete Oranienburger Straße meiden und Orte aufsuchen, die jetzt noch interessant sind, ehe sie dem Gentrifizierungs-Schreckgespenst vor die Sense geraten.
Die Location des Offset-Festivals ist sehr schön gelegen. Nach der bereits erwähnten U-Bahn-Fahrt geht es mit einem Bus oder zu Fuß ein Stückchen weiter, bis nichts mehr zu sehen ist außer Wäldern, Wiesen und einem See. DAS gehört noch zum Stadtgebiet London? Ist ja interessant… hier sagen sich Fuchs und Reh und Krähe gute Nacht…. sind es die artigen Viecher aus alten Fabeln oder die nicht-so-freundlichen aus Lars von Triers genialem „Antichrist“-Film? Werde ich im Wald umherirren und auf sprechende Tiere treffen, die den kurz zuvor stattgefundenen OASIS-Split kommentieren? Dankbarerweise griff niemand von den Leuten auf dem Festival dieses öde Thema auf.
Ohne Umschweife kommen wir gleich zu PULLED APART BY HORSES – Lieblingsband und Neuentdeckung. Die Musik: ein energetisches Bündel aus Indie, Punk, HC, McLUSKY und MUDHONEY. Die Band: vier Typen, die komplett wahnsinnig wirken, während des Gigs auf die Lautsprechertürme klettern, sich ausziehen, rumspucken und Flaschen durch die Gegend feuern. Der Pogo-Mob vor der Bühne wird zum unbändigen Monstrum. Menschen, denen eine exzessive Bühnenshow wichtig ist, werden an dieser neuen Band aus Leeds ihre Freude haben. Da haben PULLED APART BY HORSES doch glatt der Band die Show gestohlen, die nach ihnen auftritt und denen ich am meisten entgegen fiebere: FUTURE OF THE LEFT, zu zwei Dritteln bestehend aus der leider verblichenen und sehr genialen Band McLUSKY. FUTURE OF THE LEFT brachten vor einer Weile nicht nur ihr zweites, sondern auch ihr bestes Album „Travels with myself and another“ heraus. Keine Frage, sie spielen perfekt ihre spannenden und energetischen neuen Werke, neuerdings benutzt Sänger Andy Falkous auch ein Keyboard, welches zum Punk- und Krach-Instrument mutiert.
Wenige Wochen später spielen beide Bands in der gleichen Reihenfolge im Berliner Magnet, und auch hier gefällt mir PULLED APART BY HORSES wieder besser: die Grenze zwischen Bühne und Publikum wird aufgehoben. Sänger Tom flitzt wieselartig im Raum umher und schüttet mich mit Selters voll – na so ein Ferkel. Wäre ich nicht zur Seite gewichen, würde ein Gitarrenhals in meinem Gehirn stecken.
Wie die Bühnen-Aussage von FUTURE OF THE LEFT-Sänger Andy zu werten ist, dass sie PULLED APART BY HORSES lediglich mit auf Tour genommen haben, damit die „skinny“ (uk: ganz dünnen) Jungs mal was Vernünftiges zu essen kriegen, wird im kommenden WAHRSCHAUER-Magazin #58 zu lesen sein, denn dort befindet sich ein Interview mit FUTURE OF THE LEFT.
Aber zurück nach London: aus Glasgow sind DANANANAYKORYD angereist, eine Band mit sechs Mitgliedern, die sich dem Post-Hardcore verschrieben haben. Ihr Tourplakat ist im Trainspotting-Look aufgehübscht. Ansonsten mögen sie wohl FUGAZI und guten Indiepop und bestechen durch penetrant gute Laune und einen etwas eigenartigen Humor. Die Ansagen während des Gigs sind dermaßen verglasgowt, dass nicht nur Briten, sondern auch von weit dahergelaufene Hanseln wie ich nüscht vastehn.
THE XX wirken wie eine verlangsamte, nächtliche, halluzinogene Version von schöner Achtziger-Indie-Musik. Die verschleppten Gitarren gefallen genau so gut wie das hypnotische Schlagzeug und der abwechselnd männliche und weibliche Gesang von Oliver und Romy. Gehypt vom Musik-Zugpferd des Königreiches ist erst mal Skepsis geboten, doch in diesem Fall stellt sich spätestens nach dem Auftritt auf diesem Festival heraus: dieses Mal ist es angebracht. THE XX werden verdienterweise erfolgreich werden - die ersten Vorboten gibt es: der Berliner Oktober-Gig im Lido war im Vorfeld längst ausverkauft, was ebenfalls für die gesamte UK-Tour zutrifft.
THE SLITS sind legendär und Frontfrau Ari sieht nach wie vor spitze aus, was Haltung, Aussehen, Kleidung und Präsenz betrifft. Den Gig finde ich so mittel. Viele der neuen Bands, welche sich an den zweifellos sehr wichtigen THE SLITS orientieren, sind handwerklich viel versierter und schreiben bessere Songs. Macht nichts – dies war nie das Anliegen der Band. Wichtiger ist ihre tragende Rolle in der Emanzipation von Frauen in der nach wie vor von Männern beherrschten Bastion Unterhaltungsmusik mit Stromgitarren. Diese Jahr erschien eine Biographie der Band (bis jetzt lediglich in englischer Sprache) und ein neues Album, das erste nach 25 Jahren (Label Sweet Nothing).
Damon Suzuki von CAN spielte ein experimentelles Set mit befreundeten Musikern. Thomas ist begeistert, ich bin etwas ratlos. Bewusst über die Präsenz eines legendären und stilprägenden Musikers auf der Bühne fehlt mir Konzept und Songstruktur, und ich gehe lieber zu einer anderen Bühne, um THE RAYOGRAPHS anzuschauen. Diese Band besteht aus drei Frauen namens Astrud (Gitarre/Gesang), Jessamine (Bass/Gesang) und Amy (Drums). Bei ihrem Gig ist leider nicht so viel los, aber sie können absolut überzeugen durch gute Songs, die teilweise an THE BREEDERS mit einer dunkleren Note, aber auch an die WHITE STRIPES erinnern. Schön ist die stilvolle, zeitlich nicht zu verordnende Kleidung, die wirkt wie ein Arrangement aus Ironie, Zitatpop und (alternativem) Sexappeal.
Die Headliner THE HORRORS empfinde ich als New-Wave-Goth-Rock-Zitat-Kindergarten, bei dem kein Funke in mir auflodert. Den jüngeren Leuten im Publikum gefällt es gut. Ähnlich geht es mir mit THE FUTUREHEADS. Wieso eine langweilige Kopie von guten Originalen anschauen? Es gibt genug neue und spannendere Bands auf dem Festival…
Zwei Nächte nach dem Festival träume ich, das der Fuchs aus „Antichrist“ auf mich zuläuft und mir in die Augen schaut. Anstatt seines schönen Filmzitats „Chaos reigns!“ sagt er: „Wir sind Postpunk!“ Das hatte ich mir aber eh schon gedacht…
Ich will für ein paar Momente nicht mehr atmen
Ob Punk oder Oldschool-Indie, Techno oder Hardcore: was auch immer auf meinem Plattenteller stattfand, es gab wenige Konstanten in den vielen Jahren meiner Musikbegeisterung. Eine davon sind die BOXHAMSTERS. Alle paar Jahre erscheint eine sehr gute Platte (Ausfälle gab es nie), Konzerte sind eher selten und ebenfalls verlässlich gut. Außerdem gehören die Songs dieser Band zum Leben wie langjährige Freunde. Das neue BOXHAMTERS-Werk „Brut Imperial“ ist draußen, und Mitte September spielen in der Moritzbastei in Leipzig die vier Giessener (nicht zum ersten Mal) mit der Berliner Band GRIZOU. Diese sind gerade dabei, zwei Split-Singles mit ebenso interessanten Bands aufzunehmen, und ein neuer, genau so kurzer wie interessanter Song namens „Shoppingparadies Welt“ hat es ins Set geschafft. Wenige und eher kurze Ansagen von Sänger André finden Gehör, es ist ein bisschen später als geplant geworden, der Gig ist knackig und richtig gut – die inzwischen relativ regelmäßigen Konzerte von GRIZOU lassen inzwischen eine gut rüberkommende Live-Routiniertheit erkennen.
Die Boxis spielen Klassiker wie „Zu klein“, „Große Augen“, „Beende Deine Jugend“, „Armer König“ und „Klostein“ - dazwischen werden Songs vom neuen Album gestreut. Lieder wie „1982“, „Herzigel“ und „Schluchtenflitzer“ bereiten Freude, und „Mogli“ ist möglicherweise der beste BOXHAMSTERS-Song aller Zeiten – im Moment geht es mir damit jedenfalls so. Im Leipziger Konzert ist dieser geschickt als erste Zugabe platziert. Das lange Lied hat nach ungefähr zwei Dritteln einen sehr guten, atmosphärischen und dramaturgisch interessanten Instrumentalteil. Der Übergang während des Konzerts fühlt sich an wie eine Stelle aus „The Matrix“: die Zeit blieb für ein paar Momente stehen, ich kann oder will für ein paar Momente nicht mehr atmen.
Co ist einer der wenigen Leute (außer ihm fällt mir noch Andreas Löhr ein) der einen Text schreiben kann, in dem Sätze wie „Du hast ein Herz aus Gold“ drin vorkommen, und das ganze wirkt nicht peinlich oder pathetisch, sondern großartig. Obwohl das Album „Brut Imperial“ noch recht jung und unschuldig ist, bin ich schon jetzt ganz hibbelig in Erwartung neuer Songs, die mit Sicherheit in einigen Jahren kommen werden…
Dieser Artikel wurde gerade auf dem Balkon beendet. Es ist Herbstanfang, und über Berlin ist ein wunderschöner dunkeloranger Abendhimmel zu sehen. Schnell hab ich dem mittelguten Bekannten eine Nachricht geschrieben, er soll seinen Hintern an die frische Luft bewegen, weil er sonst etwas verpasst. Er wohnt dreißig Meter Luftlinie entfernt, und ich finde es toll, ihn ohne eigenes Aufstehen von Weitem durch die Gegend dirigieren zu können: wie einen ferngesteuerten Spielzeug-Roboter, dessen unökologische Riesen-Batterien ständig leer sind.
Aufgrund des letzten Satzes hat der mittelgute Bekannte gesagt ich könne was erleben. Was dem anfangs besprochenen Lebensplan folgt.
Punk and the City Kolumne 3: FRITTENBUDE
Punk and the City Kolumne 2: FARIN URLAUB RACING TEAM
Punk and the City Kolumne 1: 1000 ROBOTA