Berlin / 01.05.2010 im Babylon Mitte: Am 1. Mai in Berlin ein schnödes Hallenkonzert zu spielen, könnte auch danebengehen. Immerhin ist die halbe Stadt (gefühlt die ganze) am May Day auf den Beinen, demonstrativ demonstrieren, Straßenfeste und Konzerte sorgen für mehr oder weniger politisches Entertainment, Kreuzberg kocht und am Prenzlauer Berg kreuzen die Polizeihubschrauber.
Aber EVELYN EVELYN spielen nun mal am 1. Mai im Babylon Mitte eines ihrer drei Deutschlandkonzerte, und siehe da: ausverkauft. Nicht mal an der Abendkasse gibt es noch Tickets. Dabei hat die Band - "produziert" von Amanda Palmer und Jason Webley, bestehend aus Amanda und Jason erschreckend ähnlich sehenden
"siamesischen Zwillingsschwestern" -
gerade erst ihr Debütalbum herausgebracht und keine wahnwitzigen Promoaktionen gestartet. Da macht sich vielleicht Amanda Palmers beharrliche Omnipräsenz im Internet bezahlt. Die ehemalige DRESDEN DOLLS-Frontfrau bloggt, twittert und informiert auf allen Kanälen. Facebook, MySpace, Mailinglisten – wer will, kann jeden Tag neue private Fakten aus ihrem Leben lesen. Und die Fans lieben sie. Wie die Heuschrecken plündern sie den Merch-Stand, stylen sich ganz im Amanda-Look mit gestreiften Nylons und Korsett und empfangen EVELYN EVELYN mit tosendem Applaus.
Zuerst allerdings ist Sxip Shirey an der Reihe. Der amerikanische Performancekünstler fungiert zwar später auch noch als Ansager und eine Art Sideshow-Act, aber erstmal ist er allein auf der Bühne, mit eigenen Songs – schrägen Soundcollagen, die zum Beispiel die Stimmung in seiner Heimat Brooklyn wiedergeben. Straßenlärm meets Human Beatbox meets Raggaetunes. Der Multiinstrumentalist bedient sich dabei Spielzeug-Glockenspielen, diversen Fundstücken und natürlich der eigenen Stimme. Weird! Aber durchaus passend.
EVELYN EVELYN wirken gegen SXIP regelrecht bühnenscheu, geben sich kokett verhuscht und schweigen sich zwischen den Songs charmant aus. Dafür sparen sie sich ihre doppelte Energie für die Lieder auf. EVELYN EVELYN spielen mit verschiedenen Genres und bestechen durch intelligenten Wortwitz und unprätentiöse Eingängigkeit. Nicht eben der große musikalische Wurf, aber that's the business. Der Entertainmentfaktor jedenfalls stimmt. Und es ist schon erstaunlich, wie die beiden ihre Instrumente beherrschen. Klavier, Akkordeon, Gitarre, Ukulele, Schlagzeug – und das mit gerade mal zwei Armen. Insgesamt. Chapeau! Spätestens bei dem niedlich-verspielten "Elephant Elephant" ist das Publikum vollkommen aus dem Häuschen, und auch die großartige 80er-Pop-Parodie "My Space" ist mit Sicherheit eins der Highlights. Grotesk-freaky und mit nostalgischem Charme schummeln sich Eva und Lyn Neville (so die bürgerlichen Namen der Schwestern) in die Herzen des Publikums. Für derart großes Theater braucht es auch keine aufwändigen Bühnenbilder oder ein ausgefallenes Rahmenprogramm.
Unter den Umständen lassen es sich Jason Webley und Amanda Palmer natürlich nicht nehmen, nochmal einzeln vor das angeheizte Publikum zu treten. Zusammen performen sie unter anderem Jasons Lied "Icarus". Großartig! Aber Jason Webleys Solo-Performance steht dem in nichts nach. Wie ein Berserker fegt er mit dem Akkordeon über die Bühne und singt, als ginge es um sein Leben. Amanda Palmer ist dagegen eher matt und schluffig unterwegs, hängt sichtlich in den Seilen und wirkt ausgesprochen verkatert. Aber natürlich gibt's dafür eine plausible Erklärung: Tags zuvor hatte sie Geburtstag und im White Trash mit alten Freundinnen und Freunden die Sau rausgelassen. Unter den Umständen verzeiht man ihr natürlich alles, auch die hörbare Atemnot während "Runs in the Family" und den kleinen Textausbruch bei "Coin-Operated Boy": "I can even fuck him in the ass..." - Moment, hat sie das wirklich gesungen? Hat sie. Gut, dass Sxip Shirey irgendwann mit einem original Schöller-Kotzeimer angerannt kommt. Wenig später gibt's dann auch noch Freibier und Sauflieder – zu diesem Zeitpunkt dauert die Show bereits geschlagene drei Stunden, Pausen mitgezählt. Da darf man schon mal etwas ausgelassener werden. In diesem Sinne: cheers, und kommt ja bald wieder! Dann auch gerne nicht am 1. Mai. Oder doch, ist eigentlich egal.
TIPP: Interviewstory im kommenden WAHRSCHAUER #59.
Jana
Foto: Christoph Voy