Hamburg / 12-14. August 2011: Hamburg ist eine Stadt im Norden Deutschlands. Dort regnet es oft und viel und die Menschen beschweren sich selten darüber.
Musikfestivals sind Großveranstaltungen am Wochenende. Dort sind die Menschen fröhlich und viel kompromissbereiter als im Alltag.
Soweit die Regel, hier die Ausnahme: Das Dockville 2011. Der Regen in den Tagen vor dem Festival sah schon im innerstädtischen Hamburg besorgniserregend aus, wie sich das Ganze auf ein nur spärlich asphaltiertes Konzert- und Camping-Gelände auswirken könnte, mochte man sich lieber nicht vorstellen, wollte man sich die Vorfreude auf das Dockville nicht verderben.
Und Vorfreude war angebracht in Anbetracht eines wunderbaren Line-Ups, das auf die ganz großen (deutschen) Namen des Popbereichs verzichtete und sich lieber auf
den Rock'n'roll Mittelbau und Künstler beschränkte, die zum größeren Teil maximal vom Hörensagen bekannt waren. Dazwischen einige klug gesetzte Publikumsmagnete (EDITORS, ...AND YOU WILL KNOW US BY THE TRAIL OF DEAD) und Lokalmatadore (DIE GOLDENEN ZITRONEN), das klang nach einer sehr guten Kombination und einem Festivalkonzept, das große Lust auf einen neuerlichen Besuch der Elbinsel Wilhelmsburg machte. Wie jedes Jahr hat die Hamburger Stadtplanungspolitik auch 2011 dem Dockville in die Suppe gespuckt. Der Geländeplan wurde wieder ziemlich umgeschmissen, die relativ weitläufige Asphaltfläche mit festen Hallen, die 2010 auch als Bühnen genutzt wurden, fiel komplett weg. Stattdessen bestanden gefühlte 90% des Untergrunds aus Gras und Sandboden.
Schlamm ist ein Aggregatszustand von Erde. Kommt Erde mit größeren Mengen wasserförmigen Niederschlags in Kontakt, verwandelt sie sich in Schlamm. Bei weiterer Wasserzufuhr entstehen weitläufige Biotope (Sümpfe, Seenplatten etc.). Schlamm hat eine deprimierende Wirkung.
Dementsprechend kann zwar den Organisatoren im Nachhinein nicht genug gedankt werden, dass das Dockville auch in diesem Jahr stattgefunden hat, tatsächlich stand es wohl am Freitagvormittag kurz vor der vollständigen Absage, eine war eine Bühne aus Sicherheitsgründen für den ersten Tag komplett gesperrt. Man kann auch dem anwesenden Publikum nachträglich nur Respekt zollen, dass sie beim Anblick der Misere nicht direkt wieder umgekehrt sind, sondern das Beste aus den Bedingungen gemacht haben. Die waren aber einfach erbärmlich und natürlich hatten sie Auswirkungen auf die Organisation, die Stimmung, das Gesamterlebnis. Man mag seine Depression auf den Gewaltmärschen über endlose Matschlandschaften von einer Bühne zur anderen im Rückblick verklären und den Daheimgebliebenen als charmantes Hippie-Erlebnis verkaufen, bitte, unbedingt! Und deshalb soll es an dieser Stelle genug sein mit den Klagen und Veteranengeschichten aus dem Wilhelmsburger Schlammkessel. Das Thema heißt: Musik statt Schlamm.
Um das perfekte Dockville-Wochenende zu erleben, empfiehlt es sich, sich nicht zu strikt an einen vorher ausgedachten Ablaufplan zu halten, Hier gewinnt oft der, der sich aufs Geratewohl vor irgendeiner Bühne platziert, und sich von der Band überraschen lässt. Denn soweit kann man dem Dockville-Programm nach fünf Jahren vertrauen: Enttäuschungen sind selten und im Zweifel bei den dicken Namen als bei ihren (noch) unbekannten Pendants zu erwarten. Urteilt man nach dem, was so zu hören war, gab es wohl wenige Totalausfälle, auch die Headliner trafen wohl diverse Nerven beim Publikum. Die EDITORS boten zum Abschluss des ersten Tages einen vielleicht nicht überragenden, aber doch den erwartet guten, gitarrenbombastischen Auftritt und Frontmann Tom Smith gab seine Interpretation des niemals langweilig werdenden Klischees vom heillos betrunkenen Rockstar. Davor hatten schon EGOTRONIC per Publikumsanimation den Boden vor der kleinen Bühne zerstört, JOHNOSSI das klassische skandinavienaffine Indiepublikum in Hochstimmung versetzt.
Der Samstag begann im konkreten Fall hell und extrem gutgelaunt. KAKKMADDAFAKKA haben nicht nur einen ambitionierten Bandnamen, sondern auch ganz offensichtlich extrem viel Spaß auf der Bühne, von den beiden Vorturnern / Backgroundsängern / Ausdruckstänzern über den Lead-Cellisten bis hin zum Charmebolzen am Klavier durchweg bestes Stimmung und es gab eine gehörige Ladung junge Musik. Absoluter Festivalvolltreffer.
Im Anschluss kam der bedauernswerter Weise zum Messias des deutschen Sprechgesangs hochgeschriebene CASPER an den Start. Und der muss dem Typen, der diese Feuilleton-Schublade vom Rap-Retter zuerst aufgerissen hat, die schwarze Pest an den Hals wünschen. CASPER ist kein Erlöser von irgendwas, sondern macht guten, lyricslastigen Crossover mit viel Energie, nicht mehr, nicht weniger. Dem Publikum hat's scheinbar gefallen, weh hat's keinem getan, also alles gut.
Danach: Zeit der Entscheidungen. GOLDENE ZITRONEN oder CRYSTAL CASTLES? Beide zu sehen war in Anbetracht der Zeit, die man von Bühne A zu Bühne B durch die Matschepatsche verlor, völlig utopisch. Der Lokalpatriotismus hat gesiegt - es wurden die GOLDIES auf der kleinen Bühne: Hochgradig inspirierender Gig, schon alleine der Kostüme wegen. Allerdings müssen die CRYSTAL CASTLES um Alice Glass parallel einen derart fetten Auftritt abgeliefert haben, dass man sich doch wünscht, mal kurz einen Blick darauf geworfen zu haben. Egal, kein Auftritt der GOLDENEN ZITRONEN ist verschwendete Zeit, Punktum.
Anschließend: Zeit der Entscheidungen II. Elektronik im Zelt (FENECH SOLER, SUPERSHIRT, SLAGSMALKLUBBEN) oder Genrecocktail von der Hauptbühne (SANTIGOLD)? Letztere soll grandios gewesen sein, FENECH-SOLER aus Northhampton und die Schweden von SLAGSMALKLUBBEN waren es aber garantiert. Wunderbar das Spektrum von poppigem Elektro über ElektRock bis zum harten Technosound abgedeckt - wenn man den Abend mal als Ganzes betrachten will.
Dazwischen Audiolith's own SUPERSHIRT. Da weiß man was man bekommt: Partyelektro, Paarreime, Knicklichter. Dem Publikum hat's in seinen größeren Teilen gefallen, aber es stellt sich die Sorge ein, dass sich die Audiolith-Partyschiene auch nicht bis in alle Ewigkeit befahren lässt. Hoffentlich sagt jemand den Bands Bescheid.
Der Sonntag beginnt mit einem milchigweißen Himmel, der sich innerhalb weniger Stunden in ein weltuntergangsschwarz verwandeln sollte. Zum Anfang ein musikalisch unglaublich großartiges Konzert von den kanadischen TIMBER TIMBRE: Düsterer Country-Folk-Rock mit epischen Anmutungen und schmaler Orchestrierung, absolut hörenswert trotz fiesem Feedback. So langsam schien auch die Technik von Schlammdepressionen befallen. Bodenverhältnisse inzwischen: Unbeschreiblich.
Zu guter Letzt kam dann doch noch ein echter Messias über das Dockville: EDWARD SHARPE und seine MAGNETIC ZEROS. Besagter Mr. Sharpe ist das fiktive Alter Ego Alex Ebert's (IMA ROBOT), das eigentlich zur Menschheitserlösung auf die Erde geschickt wurde, dann allerdings über eigene Liebesverstrickungen die große Aufgabe aus den Augen verloren hat. Jetzt tourt er als sympathischer Neo-Hippie im Leinengewand über die Bühnen der Welt und macht einfach nur schönen Folk-Pop. Und wenn bei den letzten Takten seiner Show die Wolken sämtliche Hemmungen fallen lassen, weiß man: Jetzt ist es Zeit, zu gehen. Raus aus dem Schlamm, rein in die Verklärung.
Text & Fotos: Jens Geiger