tocotronic.jpgBack to the Future!

Potsdam/25.4.08 im Waschhaus: Ich hatte es mir schon als Reise in meine persönliche Vergangenheit ausgemalt: TOCOTRONIC spielen zusammen mit 18TH DYE im Waschhaus Potsdam. Also genau an dem Ort, an dem ich die TOCOS ca. 1994 zum ersten Mal live gesehen hatte. Und unweit des Potsdamer Lindenparks, in dem ich ungefähr zur gleichen Zeit 18TH DYE entdeckt hatte, und den Indierock. Damals hatte das deutsch-dänische Berliner Trio ...

... gerade ihr drittes Album bei Steve Albini aufgenommen, eine Session bei John Peel gespielt, und zwischen einer wilden Festival-Zusammenstellung von Bands hatten sie mich weggehauen. Besonders atemberaubend fand ich die Bassistin Heike Rädeker, die in Feedback-Orgien in ihren Bass brüllte, und das gesamte Understatement-Erscheinen der Band. Sie widersprachen dem Startum, den Rockerposen, und stellten etwas Großes dar. 1996 lösten sich 18TH DYE auf. Erst zehn Jahre später erschienen sie wieder zusammen auf der Bühne und haben jetzt im April ihr Renunion-Album veröffentlicht.

Ihr Auftritt heute Abend war undankbar. Ich wundere mich immer über das Publikum von Hallen- und Stadienkonzerten, das Vorbands nicht wahr nimmt. Den Mischern hätte man am liebsten ins Gesicht brüllen wollen: Das ist eine Gitarrenband! So klang es eher nach Schlagzeug-Band mit leisem Gesang darüber. Es war zu kurz. Es war zu leise. Ich hätte mir auch mehr als einen alten Song gewünscht. Schon an dieser Stelle wurde klar, dass ich mit einer Nostalgie-Strategie nicht durch diesen Abend komme.

TOCOTRONIC sahen so jung aus wie seit Jahren nicht mehr. Wahrscheinlich die Band, die ich am häufigsten live gesehen habe. Und mal ehrlich: sie waren oft eine lausige Liveband. Heute Abend nicht. Dafür sind ihre neuen Songs nicht mehr alle so umhauend wie früher. Wir sind beide älter geworden und haben uns verändert. Nothing wrong with that.
Bei dieser Band wurde schon so oft über das Fan-Ding, den Jubel bei den alten Songs, die Trainingsjacken, das breitere Phänomen gesprochen, dass da nichts Intelligentes mehr hinzuzufügen ist. Wichtig ist, dass sie sich immer politisch positioniert haben, heute bei der Ansage von „Kapitulation“ eine Absage an die Nation formulierten, und die Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen. Dass ein Album auch als Beitrag zu einem gesellschaftlichen Diskurs wahrgenommen wird, ist wahrscheinlich das Größte, was man als Band erreichen kann. Das Publikum war altersmäßig gemischt, es gab zwei-drei Crowdsurfer, Menschen, die mit TOCOTRONIC ältergeworden sind, und viel Jubel.
TOCOTRONIC haben damals die deutsche Sprache für mich musikfähig gemacht, nach SELIG, aber eben noch weiter in den Alltag, ins Echte. Sie haben viel verändert. Wenn ich jetzt aktuelle Bands auf deutsch singen höre, habe ich oft das Gefühl, sie sind schon eine Generation nach mir, die TOCOTRONIC nicht als Absage an den Deutschrock der 80er verstanden, sondern sie schon als Teil der Musikgeschichte sehen, vor deren Hintergrund wieder alles möglich ist. So gefiel mir heute Abend auch fast ihre dröhnende Verneigung vor den frühen BLUMFELD am besten: „Sag alles ab“. Ein gutes Konzert. Ohne all das wäre ich jetzt woanders.

Tipp:
Interview im Wahrschauer #56 (Ende Mai 2008).