Gewohnt ungewöhnlich!
Frühere wie heutige Industrial-Helden trotzen nicht dem Zeitgeist: das aktuelle Album der Formation X-Tg (vormals THROBBING GRISTLE) darf im voraus nur ein einziges Mal als Stream im Netz angehört werden. Aus diesem Grund folgt ein Experiment: während das ungefähr achtzigminütige Doppelalbum "Desertshore / the Final Report" läuft, werde ich Dinge notieren, welche mir zur Musik und Band einfallen. Das brainstormartige Getüm wird im Nachhinein (bis auf Rechtschreibung und Grammatik) nicht verändert.
Es ist 12.53 Uhr an einem öden, verregneten Tag. Draußen 1 Grad, in der Wohnung 18. Kaffee Latte mit Sojamilch steht bereit. Vegane Schokolade und Mandarinen liegen herum. Los geht´s.
THROBBING GRISTLE sind Geschichte. Durch den Ausstieg von Genesis P. Orridge wurde die Band zu X-Tg, welche vor kurzem ihr Vermächtnis mit dem Doppelalbum "Desertshore / the Final Report" veröffentlichte. Die erste CD beinhaltet neue Versionen aller Lieder von Nicos gleichnamigem Album, die zweite Scheibe enthält neues Material von X-Tg, die durch den Tod von Peter "Sleazy" Christophersen nun ebenfalls das Zeitliche gesegnet haben.
Sleazy ist in seiner Lieblings-Heimat Thailand verstorben. Er war dabei, Wunsch-Gastsänger für eine Neubearbeitung des (aus meiner Sicht) schönsten Nico-Albums "Desertshore" zu finden. Posthum erklärten sich alle angefragten Künstler (unter ihnen Marc Almond, Antony Hegarty, Blixa Bargeld und Gaspar Noé) bereit, bei dem Album mitzuwirken.
Nach Mitwirkung bei COCOROSIE, BJÖRK und HERCULES & LOVE AFFAIR ist Antony Hegarty - so wirklich verwunderlich ist das nicht - auch auf diesem Album gelandet. Seine Version von "Janitor of Lunacy" ist sehr schön und – wie erwartet – äußerst traurig. Es schlägt die auch nicht gerade fröhliche Nico-Version in dem Bezug.
In letzter Zeit wurde Anthony häufig als Gastmusiker eingesetzt - so trat bei seinem Namen zuletzt eine gewisse Ermüdungserscheinung ein, doch dieser Track mit dem halligen Gesang und dem verschleppten Sound ist großartig.
Blixa Bargeld singt "Abschied": eine Ballade, die gegen den Strich gebürstet klingt und auch nach seiner Haus-Band EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN in ihrer mittelspäten Phase: "Blume" fällt einem als Referenz ein.
Marc Almond legt bei "The Falconer" wie gewohnt sehr viel Pathos in seinen Gesang. Mir fällt ein, dass Nico mit ihm einen Song für sein Album "The stars we are" aufnahm - eine der letzten künstlerischen Aktivitäten von Nico, bevor sie 1988 auf Ibiza verstarb. Ihr Grab befindet sich in Berlin-Grunewald und wird gerne von Fans aufgesucht. Was schön ist: der Ort bleibt still und ohne Massentourismus – anders als bei Weggefährte Jim M.
Im Booklet der Marc-Almond-CD befindet sich ein Foto, wo er und Nico Billard spielen. Jedes Mal wenn ich das sehe bin ich aufgeregt: Freude und Trauer halten sich die Waage. Marc Almond ist vor ein paar Jahren dem Tod gerade mal so von der Schippe gesprungen, als er einen schlimmen Motorradunfall in London hatte. Überhaupt ist der Tod beim Anhören von X-Tg allgegenwärtig: Sleazy ist dahin gegangen, die Lebenspartnerin von Genesis P. Orridge namens Lady Jaye verstarb 2009.
Band-Mitfrau Cosey Fanni Tutti singt "All that is my own" und kommt stimmlich Nico am nächsten. Ein interessanter Break ist ihre hier elektronisch verfremdete Stimme.
Ab und zu fragen Leute, ob mein selbst gewählter Name Nico etwas mit der Kölner Chanteuse zu tun hat, die eigentlich Christa Päffgen heißt. Sie war Chanel-Model, Warhol-Freundin, Velvet-Underground-Sängerin, abhängig von bestimmten, ziemlich krassen Substanzen und tourte alleine mit Harmonium wie auch mit Begleitband durch die Welt, inclusive einer krassen winterharten Tour durch den so genannten "Ostblock" (siehe das düstere und aufschlussreiche Buch von Keyboarder Christopher Young). Von harten Drogen hatte sie sich zuletzt befreit. Musikalisch und künstlerisch zeigte der Weg nach oben, als sie verstarb. Die posthum veröffentlichten (Live-)Alben erzeugen nach wie vor Gänsehaut.
Auf die oben erwähnte Frage antworte ich meistens nicht. Ich habe keine Lust und lächle nur.
Ist das noch mal Blixa Bargeld? Ja, er singt auch "Mütterlein". Schön geworden...
Der französisch-argentinische Skandalregisseur Gaspar Noé ("I stand alone", "Irreversible" und vor allem "Enter the void" mit Musik von COIL und DAFT PUNK) haut uns eine etwas psychopathisch wirkende Techno-Version vom zuckersüßesten Song des Nico-Albums: "Le petit Chevalier" um die Ohren. Berghain-Geballer trifft auf dunkle Ambient-Passagen und eine tiefe, bedrohlich wirkende männliche Stimme. Ein interessanter Gegensatz zum Original, denn damals sang Nicos Sohn Ari (zu dieser Zeit noch ein Kind) das Original.
Am Schluss der ersten CD befindet sich das Titellied "Desertshores" welches auf Nicos Original-Album nicht vertreten war. Sleazy ist zu hören wie er "Meet me at the desertshore" flüstert – dies ist einer der Gänsehaut-Momente des Jahres...
"The final report" fällt ganz anders aus: hier zeigt sich die große Experimentier-Freude sowie die musikalische (Krach-)Bandbreite der Band, welche zum Zeitpunkt der Aufnahmen (2009 und 2010) noch aus Chris, Cosey und Sleazy bestand. Wie gewohnt (obwohl bei TG nie etwas gewöhnlich war) stürzen Radau, zerschredderte Gitarren-Klänge, flüsternde Stimmen ("Breach"), atonale Sequenzen ("Trope") und teilweise harmonisch klingende Keyboard-Klänge ("Um Dum Dom") ineinander.
Knapp anderthalb Stunden später sind Mandarinen und Schokolade weg. Die Soja-Latte steht noch halb da. Der Vorsatz Veganer zu werden will noch mal überdacht werden.
Das X-Tg-Doppel-Album ist spannend geraten, vor allem durch den Unterschied in Musik, Atmosphäre und Charakter: während "Desertshore" einer etwas harmonischen, liedhaften Schönheit folgt, ist "the Final Report" dem experimentiellen Höllen-Jazz-Free-Noise-Industrial-Stil verpflichtet.
X-Tg haben den Fans ein wunderbares Abschiedsgeschenk hinterlassen.
(Industrial / Cargo - VÖ: 30.11.2012)