(Not) Just a Little Grain of Sand
Als ich Lou Reed das erste mal bewusst hörte, saß ich irgendwann nachts auf der Rückbank vom Golf II meiner Eltern. Wir kamen von meinen Großeltern, ich war 12 und im Radio lief ein HipHop-Song. Die Basslinie fesselte mich sofort. Das sagte ich meinem Vater. Er sagte nur: „Die ist bei Lou Reed geklaut." Der Song hieß "Can I Kick It" und die Band A TRIBE CALLED QUEST. Zwei Wochen später war ich stolzer Besitzer meiner ersten CD von Lou Reed - "A Retrospective". Bis auf "Walk On The Wild Side", dessen Chor mich zunächst irritierte, verstand ich nichts.
Und dann ging es los.
Ich entdeckte meinen ersten Riff-Rocker Sweet Jane und die versteckten Harmonien in „Coney Island Baby“. New York kam als nächstes, dann die komplette Box von VELVET UNDERGROUND, per Mailorder von Zweitausendeins. „Set The Twilight Reeling“ erschien, und ich las in einem Interview von Mr. Reeds Suche nach dem perfekten Akkord. Ich kaufte das Album und hörte es durch, während ich in einer Musikzeitschrift blätterte. Sie fiel mir buchstäblich aus der Hand, als bei „Trade In“ die E-Gitarre einsetzte, deren Klang noch am ehesten mit dem einer mächtigen Kirchenglocke vergleichbar war. Plötzlich hatte ich eine vage Idee davon, worauf Mr. Reed hinauswollte. „Open House“ hörte ich über eine wirklich gute Stereoanlage im metallenen Rumpf eines im Hafen von Borkum liegenden Seerettungsschiffs, das mich in vier Minuten und 16 Sekunden zum Mond und zurück fuhr.
Lou Reed war ein großartiger Gitarrist und seine Virtuosität an der Gitarre zeigt sich in ihrem Sound und den Momenten ihres Schweigens. Bei „Underneath The Bottle“ ist es eine einzige, vorwitzige Bassnote, die den wesentlichen Kontrapunkt in Mr. Reeds achselzuckender Alkoholikergeschichte setzt.
Viel später schrieb ich wegen Lou Reed meinen ersten Leserbrief. Grund war ein Verriss von THE RAVEN, seines Edgar-Ellen-Poe-Projekts, und eigentlich wollte ich an dieser Stelle etwas über den Rezensenten schreiben, es ist einer von den beiden Geschmackspolizisten mit den vielen ‚D’s’ im Namen. Doch dann dachte ich: Och nö. Da trage ich lieber meinen Teil dazu bei, die Erinnerung an selbige auszulöschen. Ihre Namen werden ohnehin längst vergessen sein, wenn die Menschen noch zu „Cool It Down“ mit dem Fuß wippen. Das, übrigens, befindet sich auf „Loaded“, dem letzten Album von VELVET UNDERGROUND. Es gilt als ihr schwächstes. Mir ist es das liebste.
Neil Gaiman, Autor u.a. der Sandman-Comics und einer Biographie über Douglas Adams, hat dazu etwas schönes in seinem Nachruf geschrieben. Er bringt das berühmte Zitat von Brian Eno, der einmal sagte, THE VELVET UNDERGROUND & Nico habe vielleicht nur 30.000 Käufer gefunden, aber alle Käufer hätten danach eine Band gegründet. „Das mag stimmen“, setzt Gaiman fort, „aber manche von uns haben Loaded immer und immer wieder gehört und fingen an, Geschichten zu schreiben.“
Etwas später in seinem Nachruf sagt Gaiman, dass er durch Reeds gemeinsam mit John Cale aufgenommenes „Songs For Drella“ mehr über Andy Warhol gelernt habe, als durch sämtliche Biographien und Artikel, die er zuvor gelesen hatte. Das geht mir ähnlich. Und mit ganz New York übrigens auch.
Lou Reed war ein Geschichtenerzähler, und das machte ihn zu einem fantastischen Rock&Roll-Sänger. Er wusste, welche Betonung seine Texte brauchten. Seine Stimme ist die Klammer, die alles zusammenhält, egal wie unterschiedlich seine Alben klingen. Lou Reed hat sich nie wiederholt, nie angebiedert und, was er am allerwenigsten getan hat: Erwartungen erfüllt - außer, man erwartete das Unerwartete.
Vor nicht allzu langer Zeit wollte Lou Reed das Leipziger Centraltheater mit seinem Metal Machine Trio beehren. Ich war elektrisiert, wartete auf Tickets - und dann wurde der Auftritt abgesagt, „for very personal reasons“, wie es auf seiner Website hieß. Ich hatte kein gutes Gefühl, was sich erst wieder beruhigte, als er sich mit METALLICA ins Studio begab. Und, hatte das jemand erwartet?
So blieb es dabei, dass ich Mr. Reed ein einziges Mal live erleben durfte, im Jahr 2000 in der Düsseldorfer Philipshalle. Sie war bis in die erste Reihe bestuhlt. Ich hatte das nicht erwartet, und nach der ersten Enttäuschung und etwa 30 Minuten war es eh egal, denn dann spielte er eine halsbrecherische Version von „Romeo Had Juliette“, bei dem die Bühne erbebte schon bevor Schlagzeuger Tony „Thunder“ Smith zum Doublebassgewitter ansetzte. Wir tanzten für den Rest des Konzerts in unserer Stuhlreihe. Und waren dankbar für jedes kleine Lächeln, jede Geste, jedes an uns gerichtete, gemurmelte Wort, das uns aus Mr. Reeds schildkrötenweisem Gesicht zugestanden wurde. Es war, als könnten wir dadurch einen kurzen Blick erhaschen auf das, was wirklich in ihm vorging, für den Bruchteil einer Sekunde die Distanz überwinden, die mich voller Respekt von Mr. Reed schreiben und mich Fan sein lässt.
Auf dem Rücken des Tourshirts, das ich mir kaufte, stehen in großen, freundlichen Buchstaben die Worte „DON’T BE AFRAID“. Lou Reed hat seinen Grabsteinspruch selbst verfasst, vor Jahren schon, im Song „NYC Man“:
"New York City I Love YouBlink Your Eyes and I’ll be Gone Just a Little Grain of Sand"
Farewell, Mr. Reed, lakonisch wie immer. Die Welt ist ein Stück berechenbarer geworden.