Ein mutmaßlicher Selbstmordattentäter begeht wahrscheinlich Selbstmord
Eigentlich hätte man jetzt inzwischen schon längst über Amri geschrieben haben müssen. Der Amri, der von den deutschen Geheimdiensten monatelang beobachtet, von einem V-Mann nach Berlin chauffiert wurde, diesem erzählte, dass er Anschläge verüben wolle, wohl selbst eine Quelle der Behörden war (vgl. BZ. 24.3.2017), zu dem Warnungen ausländischer Geheimdienste eingingen und der trotzdem dann den schwersten Anschlag seit dem Oktoberfest-Anschlag 1980 auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz verüben konnte. Aber der abstruse Fall al-Bakr ist für meinen Geschmack etwas zu früh aus der Presse verschwunden. Das hat die abgedrehte Story eigentlich nicht verdient. Außerdem erinnert uns ein Rückblick auf al-Bakr daran, dass sich der abstruse Umgang der Behörden mit angeblichen IS-Terroristen zu einer peinlichen Serie entwickelt, die inzwischen mit Leichen gepflastert ist…
Wir erinnern uns: Nach einem sensationellen Polizeieinsatz, perfekt zusammengefasst im kurzen Video „Die Nacksche Kanöne – Teil 1“,
wurde al-Bakr von der sächsischen Polizei durch die aufgezwungene Hilfe von syrischen Flüchtlingen doch noch notgedrungen festgenommen (siehe „Der abstruse Fall al-Bakr – Teil 1“). Danach wurde er gegen 15.30 Uhr am Montag, den 10.10.2016, von einem Spezialkommando in die Justizvollzugsanstalt (JVA) in der Leipziger Leinestraße gebracht. Was klappte, denn dort kam er tatsächlich an.
Immerhin: 52 Stunden sächsische JVA überlebt
Die Anstaltsleitung wurde informiert, dass Bakr eine Gefahr für andere Insassen sei und vielleicht Suizid begehen wolle, weil er dem Ermittlungsrichter zuvor gesagt hatte, dass er die Nahrungsaufnahme verweigern will. In der Anstalt kommt es zu einem ersten Gespräch, welches sich – welch Überraschung - ohne Dolmetscher als schwierig erweist (diese und die Informationen, die folgen werden, stammen alle aus der unglaublichen, aber trotzdem stattgefundenen Pressekonferenz, bester Realsatire und für die ganz Harten im Zeitmaßstab 1:1 hier anzusehen (Video der Liveübertragung von Phönix):
Bakr bekommt die Anstaltskleidung ausgehändigt, u.a. ein T-Shirt, an dem er sich in ca. 52 Stunden wohl aufhängen wird: „Dann wird er von Mitarbeitern der JVA belehrt. Tiefergehend sei das nicht möglich gewesen, sagt Anstaltsleiter Jacob, aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten. Der Häftling habe aber ruhig und sachlich gewirkt. Hinweise auf ‚emotionale Ausfälle‘ habe es nicht gegeben.“ (Süddeutsche)
Man könnte auch sagen: Es läuft, in der sächsischen JVA. Was soll der Stress des Ermittlungsrichters mit der Suizidgefahr? Man hat keinen Dolmetscher, aber Menschenkenntnis! Und trotzdem: Ganz Halbprofi geht man trotzdem fast auf Nummer sicher: „Der stellvertretende Anstaltsleiter entscheidet, dass al-Bakr in seiner Zelle alle 15 Minuten kontrolliert werden soll. Es ist das kürzestmögliche Intervall für einen Häftling, bei dem keine akute Suizidgefahr besteht. Bei einer Kontrolle wird die Zellentür geöffnet und die Wachleute blicken durch das Zwischengitter in den Haftraum. Al-Bakr wird in Zelle 144 gebracht. Weil von ihm eine Gefahr für andere ausgehen könnte, wird er allein untergebracht - und sein Haftraum hat zusätzlich zur Tür ein Zwischengitter, das es ihm erschweren soll, das Personal anzugreifen.“
Genug für den ersten Gefängnistag. Bakr wird erstmal schlafen geschickt. Am nächsten Tag um 9.45 Uhr folgt die Vorstellung beim Anstaltsarzt und danach ein Termin bei einer „erfahrenen“ Psychologin. Diesmal mit Dolmetscher. Dabei zeigt der Häftling laut Anstaltsleiter Jacob „ein ‚reges Interesse‘ an den Haftbedingungen. Vor allem fragt er was passiert, wenn er sich weiterhin weigert, Nahrung zu sich zu nehmen. Die Psychologin schließt aus dem Gespräch, dass keine akute Suizidgefahr besteht. Sie empfiehlt, das Kontrollintervall von 15 auf 30 Minuten zu erhöhen.“ (Süddeutsche) Das wurde dann auch in einer Teamsitzung, u.a. mit dem stellvertretenden Anstaltsleiter, so festgelegt.
Man muss davon ausgehen, dass der „Selbstmord“ des mutmaßlichen Terroristen und extrem wichtigen Gefangenen Bakr in seiner Haftanstalt ein außerordentlich peinlicher Vorgang für Anstaltschef Jacob ist. Daher ist es bemerkenswert, dass er trotzdem ungefragt in der Pressekonferenz der Öffentlichkeit erzählt, dass Bakr auch in dem Gespräch mit der Psychologin erneut über die Verweigerung der Nahrungsaufnahme geredet hat. Das macht es für die Gefängnisführung noch ein wenig peinlicher.
„Gegen 17:50 Uhrkommt es zu einem Zwischenfall: Al-Bakr meldet, dass die Lampe von der Decke seines Haftraums heruntergefallen sei. Bedienstete sammeln die Lampe auf, stellen fest, dass sie mitsamt Dübeln aus der Decke gebrochen ist. Die Lampe wird mitgenommen, die Zelle stromlos geschaltet, für den nächsten Tag wird eine Reparatur eingeplant.“ Man kommt in der Morgenbesprechung zur Bewertung: Vandalismus. Danach wird, nach Aussage von Herrn Jacob, bei der Zellenbegehung festgestellt, dass auch Bakr an der Steckdose herumgefummelt hätte.
JVA-Chef Jakob scheißt sich nichts und berichtet der ganzen Welt auf der Pressekonferenz von der Konsequenz durch seinen serviceorientierten Knast: „Gegen Mittag werden die Reparaturmaßnahmen durchgeführt, damit al-Bakr ‚den Haftraum wieder voll nutzen‘ kann, wie Jacob formuliert. Der 22-Jährige ist in dieser Zeit in einer anderen Zelle untergebracht, kehrt nach den Reparaturmaßnahmen wieder zurück.“ (Süddeutsche) Beruhigend, dass Service in der Dresdner Haftanstalt noch großgeschrieben wird. Auch die halbstündige Kontrolle wird wegen des Vorfalls nicht wieder auf 15 Minuten reduziert.
Lassen wir das bisherige Geschehen von der „Nacksche Kanöne – Teil 2“ zusammenfassen:
Um 19:30 Uhr findet eine reguläre Kontrolle der Zelle statt. Erneut erscheint Bakr in der persönlichen Begegnung mit dem Anstaltspersonal wie immer vollkommen ruhig und unauffällig. Und trotzdem, wie durch eine Eingebung: urplötzlich hat die Auszubildende des Wachpersonals nur wenige Minuten später ein komisches Gefühl. Sie wirft deshalb einfach mal außerplanmäßig nach 15 Minuten einen Blick in Bakrs Zelle. Und tatsächlich: zack, hatte sich Bakr an seinem T-Shirt an dem Zwischengitter der Zellentür (siehe Grafik) erhängt. Wiederbelebungsversuche erfolglos.
Exkurs zum Erhängen: Das Erhängen ohne ein „freies“ Hängen ist wohl durchaus möglich, da nach relativ kurzer Zeit bei zugeschnürter Kehle der Verlust des Bewusstseins eintreten kann und eine Selbstrettung dann nicht mehr möglich ist.
Aber egal. Was auch immer in der Zelle ablief, es lässt sich nicht mehr rekonstruieren: „Die Situation in der Zelle sei nach der Selbsttötung und durch die Reanimationsversuche ‚nicht mehr ganz hundertprozentig zu klären‘ gewesen“, meinte JVA-Chef Jacob. Aber die Ermittlungen wegen Suizid – auch Fremdverschulden wird nachgegangen – werden von der Staatsanwaltschaft in Leipzig geführt (welt.de, 13.10.2016)
Vielleicht kriegen die ja doch noch was raus…!? Kleiner Scherz. Haken wir es ab und überlassen JVA-Chef Jacob die letzten Worte zu diesem Thema: „Eventuell waren wir zu gutgläubig.“ (ebenda)
Das Phantom Bakr
„Es wäre ein sehr schöner Ermittlungsansatz gewesen, wenn al-Bakr – ich sag es mal unschön – im Ermittlungsverfahren ausgepackt hätte“, sagte der sächsische Generalstaatsanwalt Fleischmann (Süddeutsche.de, 13.10.2016). Deshalb, so Fleischmann weiter, sei der Generalbundesanwalt nicht gerade erfreut gewesen. Ja, das sollte man eigentlich annehmen. Schließlich hatte die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen im Fall Bakr schon einen Tag vor seiner Festnahme an sich gezogen. Das war am Sonntag, den 9.10.2016 (siehe „Der abstruse Fall al-Bakr – Teil1“). Nach seiner Festnahme zeigte die Bundesbehörde aber auffällig wenig Interesse an dem mutmaßlichen Terroristen. Normalerweise werden die Verdächtigen nach ihrer Festnahme ja mit einer Maske über dem Kopf von ebenfalls vermummten harten Polizeijungs nach Karlsruhe geflogen. Aber bei Bakr chillt Karlsruhe. Man hätte Bakr gar nicht vernehmen wollen, weil – jetzt festhalten: „Al-Bakr habe mehrfach erklärt, er werde keine weiteren Angaben machen“ (Bild.de, 16.10.2016).
Also eins ist klar: Bei den Merkwürdigkeiten im Fall Bakr sollte man nicht nur die Police Academy in Sachsen im Auge haben.
Auch nach dem Tod von Bakr führt die Bundesanwaltschaft die Terrorermittlungen bis heute weiter. Denn, so sollte man annehmen, es wäre ja nicht ganz uninteressant und vielleicht für die Verhinderung weiterer Anschläge nicht schlecht, ein paar Fragen zu klären und der Öffentlichkeit mitzuteilen: Handelte Bakr allein oder bewegte er sich in einem Netzwerk, handelte er autonom oder auf Anweisung einer Organisation? Erste Recherchen weisen darauf hin, dass er nicht allein handelte und finanzielle Unterstützung bekam (welt.de, 19.10.2016).
Doch wer steckt dann hinter der Aktivität von Bakr? Diese Frage ist besonders wichtig, weil die von Medien und Behörden oft kolportierte Mutmaßung, Bakr hätte Verbindungen zum IS gehabt, sich schnell in Luft auflösten. Bereits kurz nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Bakr am 16.10.2016, verkündete ein Sprecher der Bundesanwaltschaft, dass keine "ausreichenden gerichtsverwertbaren Bezüge zum IS" erkennbar wären (vgl. n-tv, 16.10.2016).
Es ist nicht verwunderlich, dass die Bundesanwaltschaft dies so schnell verkünden konnte, oder vielleicht sogar dazu gezwungen war. Wenige Tage zuvor waren in den Medien Informationen nachzulesen, die klar in eine andere Richtung wiesen:
„Nach Recherchen des MDRreiste al-Bakr im Herbst vergangenen Jahres von Deutschland in die Türkei und von dort weiter nach Syrien. Das habe die Familie des 22-Jährigen mitgeteilt, berichtete das Magazin ‚Exakt‘. Laut ‚Spiegel TV‘ wählte sich al-Bakrs Handy in der Türkei in das dortige Mobilfunknetz ein. Mitbewohner aus dem nordsächsischen Eilenburg berichteten auch von einem Aufenthalt al-Bakrs im syrischen Idlib (Anm.: grenzt an die Türkei). Nach seiner Rückkehr aus der Türkeihabe sich Al-Bakr verändert. Außerdem habe er eine große Menge Dollar-Noten bei sich gehabt.“ (tagesschau.de, 12.10.2016)
Diese Recherchen weisen nicht unbedingt auf eine Verbindung zum IS hin. Denn in der Region Idlib ist der IS nicht. Aber wer ist dann dort? Die Gegend um die Stadt Idlib liegt im Norden Syriens. Die Region wurde im Zuge desBürgerkrieges in Syrienim Frühjahr 2015 von der islamistischen RebellenallianzDschaisch al-Fataheingenommen. Diese Allianz gilt als ein exklusiv von der Türkei geführtes Projekt zum Sturz von Assad, während der IS wohl von mehreren ausländischen Geheimdiensten instrumentalisiert wird. Die von der Dschaisch al-Fatah besetzte Region Idlib grenzt an die Türkei. Es ist davon auszugehen, dass Verbindungen der Dschaisch al-Fatah zum türkischen Geheimdienst genauso vorhanden sind wie zum islamistischen Terrorismus. Die größte Gruppe innerhalb der Dschaisch al-Fatah ist die Ahrar al-Scham, eine islamistisch-salafistische Rebellenmiliz, die wiederum Kontakte zur Al-Nusra-Front hat, welche bis zum Sommer 2016 noch offiziell zur Terrororganisation von al-Qaida gehörte (vgl. wikipedia).
Wieso wurde ständig der angebliche IS-Kontakt kolportiert, obwohl es dafür keine Belege gab? Welt-Online titelte vielleicht gar nicht so verkehrt: „Spur des Bombenbauers führt in die Türkei“. Doch dort ist in diesem Zusammenhang bisher nichts weiter zu erkennen als eine Black-Box. Obwohl die Hintergründe im Fall Bakr vollkommen unklar sind und obwohl deren Beantwortung möglicherweise einige Brisanz haben könnte, ist der Fall so gut wie aus den Medien verschwunden. Der Umgang der Behörden mit mutmaßlichen islamistischen Terroristen jedoch bleibt bizarr. Was auch der spätere Fall Amri zeigte.
Doch wer steckt dann hinter der Aktivität von Bakr? Diese Frage ist besonders wichtig, weil die von Medien und Behörden oft kolportierte Mutmaßung, Bakr hätte Verbindungen zum IS gehabt, sich schnell in Luft auflösten. Bereits kurz nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Bakr am 16.10.2016, verkündete ein Sprecher der Bundesanwaltschaft, dass keine "ausreichenden gerichtsverwertbaren Bezüge zum IS" erkennbar wären.
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Eigentlich hätte man jetzt inzwischen schon längst über Amri geschrieben haben müssen. Der Amri, der von den deutschen Geheimdiensten monatelang beobachtet, von einem V-Mann nach Berlin chauffiert wurde, diesem erzählte, dass er Anschläge verüben wolle, wohl selbst eine Quelle der Behörden war (vgl. BZ. 24.3.2017), zu dem Warnungen ausländischer Geheimdienste eingingen und der trotzdem dann den schwersten Anschlag seit dem Oktoberfest-Anschlag 1980 auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz verüben konnte. Aber der abstruse Fall al-Bakr ist für meinen Geschmack etwas zu früh aus der Presse verschwunden. Das hat die abgedrehte Story eigentlich nicht verdient. Außerdem erinnert uns ein Rückblick auf al-Bakr daran, dass sich der abstruse Umgang der Behörden mit angeblichen IS-Terroristen zu einer peinlichen Serie entwickelt, die inzwischen mit Leichen gepflastert ist…
Wir erinnern uns: Nach einem sensationellen Polizeieinsatz, perfekt zusammengefasst im kurzen Video „Die Nacksche Kanöne – Teil 1“,
wurde al-Bakr von der sächsischen Polizei durch die aufgezwungene Hilfe von syrischen Flüchtlingen doch noch notgedrungen festgenommen (siehe „Der abstruse Fall al-Bakr – Teil 1“). Danach wurde er gegen 15.30 Uhr am Montag, den 10.10.2016, von einem Spezialkommando in die Justizvollzugsanstalt (JVA) in der Leipziger Leinestraße gebracht. Was klappte, denn dort kam er tatsächlich an.
Immerhin: 52 Stunden sächsische JVA überlebt
Die Anstaltsleitung wurde informiert, dass Bakr eine Gefahr für andere Insassen sei und vielleicht Suizid begehen wolle, weil er dem Ermittlungsrichter zuvor gesagt hatte, dass er die Nahrungsaufnahme verweigern will. In der Anstalt kommt es zu einem ersten Gespräch, welches sich – welch Überraschung - ohne Dolmetscher als schwierig erweist (diese und die Informationen, die folgen werden, stammen alle aus der unglaublichen, aber trotzdem stattgefundenen Pressekonferenz, bester Realsatire und für die ganz Harten im Zeitmaßstab 1:1 hier anzusehen (Video der Liveübertragung von Phönix):
(Eine kürzere schriftliche Zusammenfassung gibt es auf Süddeutsche-Online.)
Bakr bekommt die Anstaltskleidung ausgehändigt, u.a. ein T-Shirt, an dem er sich in ca. 52 Stunden wohl aufhängen wird: „Dann wird er von Mitarbeitern der JVA belehrt. Tiefergehend sei das nicht möglich gewesen, sagt Anstaltsleiter Jacob, aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten. Der Häftling habe aber ruhig und sachlich gewirkt. Hinweise auf ‚emotionale Ausfälle‘ habe es nicht gegeben.“ (Süddeutsche)
Man könnte auch sagen: Es läuft, in der sächsischen JVA. Was soll der Stress des Ermittlungsrichters mit der Suizidgefahr? Man hat keinen Dolmetscher, aber Menschenkenntnis! Und trotzdem: Ganz Halbprofi geht man trotzdem fast auf Nummer sicher: „Der stellvertretende Anstaltsleiter entscheidet, dass al-Bakr in seiner Zelle alle 15 Minuten kontrolliert werden soll. Es ist das kürzestmögliche Intervall für einen Häftling, bei dem keine akute Suizidgefahr besteht. Bei einer Kontrolle wird die Zellentür geöffnet und die Wachleute blicken durch das Zwischengitter in den Haftraum. Al-Bakr wird in Zelle 144 gebracht. Weil von ihm eine Gefahr für andere ausgehen könnte, wird er allein untergebracht - und sein Haftraum hat zusätzlich zur Tür ein Zwischengitter, das es ihm erschweren soll, das Personal anzugreifen.“
Genug für den ersten Gefängnistag. Bakr wird erstmal schlafen geschickt. Am nächsten Tag um 9.45 Uhr folgt die Vorstellung beim Anstaltsarzt und danach ein Termin bei einer „erfahrenen“ Psychologin. Diesmal mit Dolmetscher. Dabei zeigt der Häftling laut Anstaltsleiter Jacob „ein ‚reges Interesse‘ an den Haftbedingungen. Vor allem fragt er was passiert, wenn er sich weiterhin weigert, Nahrung zu sich zu nehmen. Die Psychologin schließt aus dem Gespräch, dass keine akute Suizidgefahr besteht. Sie empfiehlt, das Kontrollintervall von 15 auf 30 Minuten zu erhöhen.“ (Süddeutsche) Das wurde dann auch in einer Teamsitzung, u.a. mit dem stellvertretenden Anstaltsleiter, so festgelegt.
Man muss davon ausgehen, dass der „Selbstmord“ des mutmaßlichen Terroristen und extrem wichtigen Gefangenen Bakr in seiner Haftanstalt ein außerordentlich peinlicher Vorgang für Anstaltschef Jacob ist. Daher ist es bemerkenswert, dass er trotzdem ungefragt in der Pressekonferenz der Öffentlichkeit erzählt, dass Bakr auch in dem Gespräch mit der Psychologin erneut über die Verweigerung der Nahrungsaufnahme geredet hat. Das macht es für die Gefängnisführung noch ein wenig peinlicher.
„Gegen 17:50 Uhrkommt es zu einem Zwischenfall: Al-Bakr meldet, dass die Lampe von der Decke seines Haftraums heruntergefallen sei. Bedienstete sammeln die Lampe auf, stellen fest, dass sie mitsamt Dübeln aus der Decke gebrochen ist. Die Lampe wird mitgenommen, die Zelle stromlos geschaltet, für den nächsten Tag wird eine Reparatur eingeplant.“ Man kommt in der Morgenbesprechung zur Bewertung: Vandalismus. Danach wird, nach Aussage von Herrn Jacob, bei der Zellenbegehung festgestellt, dass auch Bakr an der Steckdose herumgefummelt hätte.
JVA-Chef Jakob scheißt sich nichts und berichtet der ganzen Welt auf der Pressekonferenz von der Konsequenz durch seinen serviceorientierten Knast: „Gegen Mittag werden die Reparaturmaßnahmen durchgeführt, damit al-Bakr ‚den Haftraum wieder voll nutzen‘ kann, wie Jacob formuliert. Der 22-Jährige ist in dieser Zeit in einer anderen Zelle untergebracht, kehrt nach den Reparaturmaßnahmen wieder zurück.“ (Süddeutsche) Beruhigend, dass Service in der Dresdner Haftanstalt noch großgeschrieben wird. Auch die halbstündige Kontrolle wird wegen des Vorfalls nicht wieder auf 15 Minuten reduziert.
Lassen wir das bisherige Geschehen von der „Nacksche Kanöne – Teil 2“ zusammenfassen:
Um 19:30 Uhr findet eine reguläre Kontrolle der Zelle statt. Erneut erscheint Bakr in der persönlichen Begegnung mit dem Anstaltspersonal wie immer vollkommen ruhig und unauffällig. Und trotzdem, wie durch eine Eingebung: urplötzlich hat die Auszubildende des Wachpersonals nur wenige Minuten später ein komisches Gefühl. Sie wirft deshalb einfach mal außerplanmäßig nach 15 Minuten einen Blick in Bakrs Zelle. Und tatsächlich: zack, hatte sich Bakr an seinem T-Shirt an dem Zwischengitter der Zellentür (siehe Grafik) erhängt. Wiederbelebungsversuche erfolglos.
Exkurs zum Erhängen: Das Erhängen ohne ein „freies“ Hängen ist wohl durchaus möglich, da nach relativ kurzer Zeit bei zugeschnürter Kehle der Verlust des Bewusstseins eintreten kann und eine Selbstrettung dann nicht mehr möglich ist.
Aber egal. Was auch immer in der Zelle ablief, es lässt sich nicht mehr rekonstruieren: „Die Situation in der Zelle sei nach der Selbsttötung und durch die Reanimationsversuche ‚nicht mehr ganz hundertprozentig zu klären‘ gewesen“, meinte JVA-Chef Jacob. Aber die Ermittlungen wegen Suizid – auch Fremdverschulden wird nachgegangen – werden von der Staatsanwaltschaft in Leipzig geführt (welt.de, 13.10.2016)
Vielleicht kriegen die ja doch noch was raus…!? Kleiner Scherz. Haken wir es ab und überlassen JVA-Chef Jacob die letzten Worte zu diesem Thema: „Eventuell waren wir zu gutgläubig.“ (ebenda)
Das Phantom Bakr
„Es wäre ein sehr schöner Ermittlungsansatz gewesen, wenn al-Bakr – ich sag es mal unschön – im Ermittlungsverfahren ausgepackt hätte“, sagte der sächsische Generalstaatsanwalt Fleischmann (Süddeutsche.de, 13.10.2016). Deshalb, so Fleischmann weiter, sei der Generalbundesanwalt nicht gerade erfreut gewesen. Ja, das sollte man eigentlich annehmen. Schließlich hatte die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen im Fall Bakr schon einen Tag vor seiner Festnahme an sich gezogen. Das war am Sonntag, den 9.10.2016 (siehe „Der abstruse Fall al-Bakr – Teil1“). Nach seiner Festnahme zeigte die Bundesbehörde aber auffällig wenig Interesse an dem mutmaßlichen Terroristen. Normalerweise werden die Verdächtigen nach ihrer Festnahme ja mit einer Maske über dem Kopf von ebenfalls vermummten harten Polizeijungs nach Karlsruhe geflogen. Aber bei Bakr chillt Karlsruhe. Man hätte Bakr gar nicht vernehmen wollen, weil – jetzt festhalten: „Al-Bakr habe mehrfach erklärt, er werde keine weiteren Angaben machen“ (Bild.de, 16.10.2016).
Also eins ist klar: Bei den Merkwürdigkeiten im Fall Bakr sollte man nicht nur die Police Academy in Sachsen im Auge haben.
Auch nach dem Tod von Bakr führt die Bundesanwaltschaft die Terrorermittlungen bis heute weiter. Denn, so sollte man annehmen, es wäre ja nicht ganz uninteressant und vielleicht für die Verhinderung weiterer Anschläge nicht schlecht, ein paar Fragen zu klären und der Öffentlichkeit mitzuteilen: Handelte Bakr allein oder bewegte er sich in einem Netzwerk, handelte er autonom oder auf Anweisung einer Organisation? Erste Recherchen weisen darauf hin, dass er nicht allein handelte und finanzielle Unterstützung bekam (welt.de, 19.10.2016).
Doch wer steckt dann hinter der Aktivität von Bakr? Diese Frage ist besonders wichtig, weil die von Medien und Behörden oft kolportierte Mutmaßung, Bakr hätte Verbindungen zum IS gehabt, sich schnell in Luft auflösten. Bereits kurz nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Bakr am 16.10.2016, verkündete ein Sprecher der Bundesanwaltschaft, dass keine "ausreichenden gerichtsverwertbaren Bezüge zum IS" erkennbar wären (vgl. n-tv, 16.10.2016).
Es ist nicht verwunderlich, dass die Bundesanwaltschaft dies so schnell verkünden konnte, oder vielleicht sogar dazu gezwungen war. Wenige Tage zuvor waren in den Medien Informationen nachzulesen, die klar in eine andere Richtung wiesen:
„Nach Recherchen des MDRreiste al-Bakr im Herbst vergangenen Jahres von Deutschland in die Türkei und von dort weiter nach Syrien. Das habe die Familie des 22-Jährigen mitgeteilt, berichtete das Magazin ‚Exakt‘. Laut ‚Spiegel TV‘ wählte sich al-Bakrs Handy in der Türkei in das dortige Mobilfunknetz ein. Mitbewohner aus dem nordsächsischen Eilenburg berichteten auch von einem Aufenthalt al-Bakrs im syrischen Idlib (Anm.: grenzt an die Türkei). Nach seiner Rückkehr aus der Türkeihabe sich Al-Bakr verändert. Außerdem habe er eine große Menge Dollar-Noten bei sich gehabt.“ (tagesschau.de, 12.10.2016)
Diese Recherchen weisen nicht unbedingt auf eine Verbindung zum IS hin. Denn in der Region Idlib ist der IS nicht. Aber wer ist dann dort? Die Gegend um die Stadt Idlib liegt im Norden Syriens. Die Region wurde im Zuge desBürgerkrieges in Syrienim Frühjahr 2015 von der islamistischen RebellenallianzDschaisch al-Fataheingenommen. Diese Allianz gilt als ein exklusiv von der Türkei geführtes Projekt zum Sturz von Assad, während der IS wohl von mehreren ausländischen Geheimdiensten instrumentalisiert wird. Die von der Dschaisch al-Fatah besetzte Region Idlib grenzt an die Türkei. Es ist davon auszugehen, dass Verbindungen der Dschaisch al-Fatah zum türkischen Geheimdienst genauso vorhanden sind wie zum islamistischen Terrorismus. Die größte Gruppe innerhalb der Dschaisch al-Fatah ist die Ahrar al-Scham, eine islamistisch-salafistische Rebellenmiliz, die wiederum Kontakte zur Al-Nusra-Front hat, welche bis zum Sommer 2016 noch offiziell zur Terrororganisation von al-Qaida gehörte (vgl. wikipedia).
Wieso wurde ständig der angebliche IS-Kontakt kolportiert, obwohl es dafür keine Belege gab? Welt-Online titelte vielleicht gar nicht so verkehrt: „Spur des Bombenbauers führt in die Türkei“. Doch dort ist in diesem Zusammenhang bisher nichts weiter zu erkennen als eine Black-Box. Obwohl die Hintergründe im Fall Bakr vollkommen unklar sind und obwohl deren Beantwortung möglicherweise einige Brisanz haben könnte, ist der Fall so gut wie aus den Medien verschwunden. Der Umgang der Behörden mit mutmaßlichen islamistischen Terroristen jedoch bleibt bizarr. Was auch der spätere Fall Amri zeigte.
Doch wer steckt dann hinter der Aktivität von Bakr? Diese Frage ist besonders wichtig, weil die von Medien und Behörden oft kolportierte Mutmaßung, Bakr hätte Verbindungen zum IS gehabt, sich schnell in Luft auflösten. Bereits kurz nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Bakr am 16.10.2016, verkündete ein Sprecher der Bundesanwaltschaft, dass keine "ausreichenden gerichtsverwertbaren Bezüge zum IS" erkennbar wären.
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