amok.jpg"School Shootings sind immer auch ein Problem der Gesamtgesellschaft"

Berlin / 12.3.2008: Aufgrund der aktuellen Ereignisse in Winnenden veröffentlichen wir hier noch einmal einen großen Ausschnitt aus dem Artikel, den wir zum Schwerpunktthema "Lust am Untergang" im WAHRSCHAUER #56 (Juli 2008) abdruckten:



[Amok] malaiisch: meng-âmok, in blinder Wut angreifen und töten


Lust am Untergang? Auch außerhalb alternativer Kreise werden gern – vor allem in jüngeren Jahren - das Selbst und die Umwelt in Frage gestellt. Deshalb finden sich immer wieder assoziativ damit verbundene Themen in bestimmten (Jugend)-Kulturen wie Punk, Goth oder HipHop. Zudem mündet eine Lust am Untergang häufig in künstlerische Tätigkeiten sowie dem Teilhaben an themenrelevanten Peer-Groups. Doch wie wird man zum Amokläufer in einer Schule? Was ist bei diesen Tätern, im folgenden „School Shooter“ genannt - schief gelaufen? Unter welchen Voraussetzungen kann etwas so Schreckliches passieren? Und: Lässt es sich verhindern?

Beim Recherchieren stellte ich schnell fest, dass es den meisten Medien nicht um die  auf der Hand liegenden Hauptthemen Ursachenforschung und Prävention geht, sondern um eine Schlagzeile, die sich gut verkauft – wie erwartet bei jenen Zeitungen und TV-Kanälen, die häufig nach Moral und härteren Strafen rufen, selbst aber durch reißerische, sexistische, einseitige, manipulative und (somit auch durch deren eigene Brille betrachtet) unmoralische Berichterstattung sowie eine ebensolche Präsentation der Welt (in TV-Serien und Filmen) auffallen. Die Frage ist, welche Werte und Ideale an junge Menschen vermittelt oder besser: verkauft werden.
Fifteen minutes of fame? Mitwirken in der Castingshow – ein erstrebenswertes Ziel? Die nachmittägliche Plapper-Show im Privatkanal als Hauptbühne? Kann es sein, dass diese schöne neue Welt eine Mitverantwortung trägt für Zustände wie Columbine und Erfurt, da durchgeknallte Menschen merken, sich mit der Tat erfolgreich in die Öffentlichkeit hinein zu inszenieren?

Eine ähnliche Kritik äußerte Marilyn Manson in einem ausführlichen Artikel im Rolling Stone, nachdem er vorher von den Massenmedien, Politikern und rechten religiösen Gruppierungen als geistiger Brandstifter für das „School-Shooting“ in Columbine bezeichnet wurde: „A lot of people forget or never realize that I started my band as a criticism of these very issues of despair and hypocrisy.
The name Marilyn Manson has never celebrated the sad fact that America puts killers on the cover of Time magazine, giving them as much notoriety as our favorite movie stars. From Jesse James to Charles Manson, the media, since their inception, have turned criminals into folk heroes. They just created two new ones when they plastered those dipshits Dylan Klebold and Eric Harris' (Täter von Columbine) pictures on the front of every newspaper. Don't be surprised if every kid who gets pushed around has two new idols.” (Rolling Stone)

Marilyn Manson bezeichnete sich weiter als „Posterboy of fear“ und beschwerte sich darüber, dass die meisten Medien ignoriert hätten, dass die Columbine-Attentäter keine Fans von ihm waren und seine Musik nicht mal mochten. Medien würden alles verdrehen und die Menschen mit Angst vollpumpen, wenn sie Nachrichten anschauen, die von Überflutungen, Aids und Killern handeln. Danach käme Werbung für Zahnpasta und Kosmetik, die auch eine Angstkampagne lostritt, weil du keinen abkriegst, wenn du Pickel hast etc.
I think it´s all based on the whole idea of keep everyone afraid, and they´ll consume!”


Zwei Definitionen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) versteht unter Amok „eine willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-) zerstörerischen Verhaltens. Danach Amnesie (Erinnerungslosigkeit) und/oder Erschöpfung. Häufig auch der Umschlag in selbstzerstörerisches Verhalten, d.h. Verwundung oder Verstümmelung bis zum Suizid (Selbsttötung)".

Ein Amoklauf an Schulen wird in dem Buch „Der Riss in der Tafel“ (S. 10) folgendermaßen umschrieben: „School Shootings bezeichnen Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten und zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden. Dieser Bezug wird entweder in der Wahl mehrerer Opfer deutlich, oder in dem demonstrativen Tötungsversuch einer einzelnen Person, insofern sie aufgrund ihrer Funktion an der Schule als potentielles Opfer ausgewählt wurde.“


Beim Recherchieren zu dem Thema fielen folgende Dinge auf:

1. Bei sämtlichen Amokläufern gab es im Vorfeld Quellen von Frustration, wie gravierende Probleme im sozialen Umfeld, meist in Kombination mit einem Mangel an Selbstwertgefühl.
2. Viele Medien gehen relativ verantwortungslos mit dem Thema um, siehe oben.
3. Es werden häufig „Lösungsmöglichkeiten“ genannt, die etwas simpel gestrickt sind: Kontrolle, Zensur und Abschreckung durch harte Strafen.
4. Nur eine Minderheit der Amokläufer interessierte sich für eine bestimmte Musik(richtung) oder für Killerspiele. In dem Buch „Der Riss in der Tafel“ ist die Rede von einem „Kausal-Fehler“, wenn beim Auffinden von Gegenständen wie bestimmten Rock-CDs oder Videospielen davon ausgegangen wird, diese seien verantwortlich für eine Gewalttat, wie z.B. im Fall von Marilyn Manson und den Columbine-Amokläufern. In Bezug auf die Kleidung der Attentäter gibt es eine Tendenz, (teilweise!) gern schwarze und düster wirkende Kleidung zu tragen. Oft haben Täter im Vorfeld Skizzen und Bilder angefertigt, auf denen bis ins Detail zu sehen ist, wie sie während des Geschehens aussehen wollen. Ob Musik eine Auswirkung hat, ist fraglich.
5. Es gibt eine Tendenz unter manchen Jugendlichen, die Täter zu romantisieren und als „Helden“ oder „Märtyrer“ darzustellen, was vor allem im Internet relativ präsent ist, nicht zuletzt durch den Eindruck, im Internet anonym zu sein.
6. Alle Täter sind männlich.

Interview mit den Experten Prof. Roland Neumann und Dr. Frank J. Robertz

Ich hatte die Gelegenheit, zwei Personen zu interviewen, die sich sehr eingehend mit dem Thema „Amoklauf“ und „School Shooting“ beschäftigen: Roland Neumann, Professor für Psychologie an der Universität Dortmund, arbeitet mit dem Thema „Amokläufe und Medien“ in Vorlesungen und Forschungen.

Das zweite Interview konnte ich mit Dr. phil. Frank J. Robertz, Dipl. Kriminologe und Dipl. Sozialpädagoge, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Gewaltprävention und angewandte Kriminologie, IGeaK, führen. Dieser hat in Zusammenarbeit mit anderen Autoren das interessante, sensible und tiefschürfende Buch „Der Riss in der Tafel“ herausgebracht.

Wahrschauer: Wären Ereignisse wie das Columbine-Massaker zu verhindern, wenn Frustrationsquellen für Schüler gemindert bzw. ausgeschaltet würden?


Prof. Dr. Roland Neumann: Amokläufe haben meistens eine Vielzahl von Ursachen. Frustration ist nur eine davon. Sicherlich spielt dabei eine Rolle, dass Frustrationen sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Ist eine Person leicht kränkbar, wird sie eher Rachepläne schmieden, wenn sie sich von Lehrern oder Mitschülern zurückgesetzt fühlt. Außerdem spielt eine Rolle, ob die Person sozial gut integriert ist. Teilen andere die Einschätzung, dass man ungerecht behandelt wurde, so kann dies die emotionale Reaktion abschwächen.

W: Wenn ich es richtig verstanden habe, sind nicht ALLE Menschen prädestiniert für ein extremes Ausbrechen von Gewalt, sondern nur bestimmte Leute. Welche Faktoren spielen hier noch eine Rolle?

R.N.: Eigene Gewalterfahrungen, Gefühle der Ohnmacht gepaart mit der Vorstellung, durch eine bizarre Tat die eigene Ehre wiederherzustellen, können eine Rolle spielen. Oft spielt eine instabile Selbstbewertung eine Rolle. Menschen, die sehr stark schwanken zwischen einer Überbewertung der eigenen Person und Minderwertigkeitsgefühlen. Diese können natürlich nur auftreten, wenn Faktoren in der sozialen Umgebung bestehen, die diese starken Schwankungen begünstigen. Eine zu einseitige Leistungsorientierung in der Schule verbunden mit der Ausgrenzung einzelner Schüler wirkt hier begünstigend.

W: Wie lässt sich, wenn School Shootings immer weit im Voraus geplant
werden, eine Alarmbereitschaft sicherstellen, die aber NICHT in eine Hexenjagd ausartet?

Dr. Phil. Frank J. Robertz: Sie haben den Kern der Problematik gut erfasst. Genau an dem Problem arbeiten wir in unseren Fortbildungen. Wir vermitteln den Schulsystemen ein möglichst einfach zu nutzendes und klares Handwerkszeug, um potentielle Gefahren rechtzeitig zu erkennen, gleichzeitig aber auch ausdrücklich vor einer Überbewertung „normaler“ Gewaltphantasien zu warnen. Die Rückmeldungen der über die Jahre fortgebildeten Schulen und Polizeieinheiten sind dabei sehr gut. Wesentlich ist es zu begreifen, dass es nicht darum geht, eindeutig „vorauszusagen“, ob jemand ein School Shooting begehen wird, sondern ob er sich auf einem Weg dorthin befindet. Ziel ist es dann, ihm die Hilfen zukommen zu lassen, die eine solche Tat für ihn unnötig werden lassen. Das beste Mittel, eine solch schwere Gewalttat zu verhindern, ist Integration, nicht Exklusion. Die Jugendlichen müssen in die Gesellschaft integriert werden und sich eingebunden fühlen. Erfahrungsgemäß funktioniert das sehr gut.
 W: In dem Buch ist die Rede davon, dass Tötungshemmungen bei den School-Shootern außer Kraft gesetzt sind. Wie kann so etwas geschehen?

F.R.: Es muss sehr viel zusammenkommen, damit ein School Shooting tatsächlich
umgesetzt wird. Neben dem Fehlen von Möglichkeiten, Anerkennung zu bekommen, einer starken Kränkbarkeit und der Funktionslosigkeit sozialer Stützsysteme zählt hierunter auch ein auf dieser Basis entstehendes intensives und präzise ausgestaltetes Phantasieerleben, das sich rund um das Thema School Shooting dreht. In der Phantasie wird die Tat immer wieder durchgespielt und zunehmend über Tagebücher, Gespräche, Aufsätze, Filme oder Drohungen in die Realität eingeflochten. Sie wird gewissermaßen immer stärker ausprobiert, bevor sie umgesetzt werden kann. Dazu gehört dann bspw. auch das Entmenschlichen der Opfer („die haben es verdient“), die Glorifizierung des eigenen Todes („ich bin ein Märtyrer“) oder die Gewöhnung an die Nutzung von Waffen und die Idee, durch die Tat ein Höchstmaß an Anerkennung und Kontrolle zu erreichen. Indem sie letztlich über Leben und Tod anderer Menschen entscheiden werden, nehmen sie den Kontrollgewinn für ihre Leben vorweg. Zudem wissen sie, dass sie durch ihre Tat eine hohe multimediale Aufmerksamkeit erreichen und in gewissen Kreisen auch enorme Anerkennung (etwa in Form von Fanseiten im Internet) erfahren werden.

W: Wird das Thema von den Medien zu einseitig dargestellt? (Schuldzuweisungen Richtung Marilyn Manson oder Videospielen). Schadet dies der Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Untersuchungen, die auf seriöse Weise zu ähnlichen Rückschlüssen kommen wie bestimmte Massenmedien?


R.N.: Wissenschaftliche Erkenntnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln, ist nicht einfach, weil sehr häufig aus diesen Erkenntnissen bestimmte Normen abgeleitet werden, wie Verbote von Videospielen mit Gewaltinhalten. Tatsächlich implizieren die Untersuchungen aber keineswegs, wie man mit Videospielen umgehen sollte. Was hier am effektivsten ist und was zu einer freiheitlichen Gesellschaft passt, muss sich im Diskurs zeigen.

W: Kann es sein, dass Nachahmungstäter und Trittbrettfahrer durch die Medien zu ihrem Handeln angestiftet werden?

R.N.: Imitation ist ein sehr wesentlicher Beweggrund für das menschliche Verhalten. Insofern ist immer mit Nachahmungstätern zu rechnen. Außerdem ist bekannt, dass es Internetforen gibt, in denen Attentäter heroisiert werden.

W: Ist es möglich, den Medienvertretern zu vermitteln, dass sie nicht zu
reißerisch, zu ausführlich (z. B. das Abbilden von Fotos und Zeichnungen der Täter und z. B. deren Kleidung und Waffen) oder zu einseitig berichten? Gibt es hier bereits Erfahrungswerte?

F.R.: Sie schneiden ein außerordentlich wichtiges Thema an. Das versuche ich schon eine ganze Weile über Artikel und persönliche Gespräche. Einige
Medienvertreter hören aufmerksam zu und setzen die Hinweise erfreulicherweise auch um. Andere sehen eine falsch verstandenen „Pressefreiheit“ im Vordergrund und publizieren weiterhin Beiträge, die die Nachahmung solcher Taten fördern. Eine ethische Vereinbarung wie sie oft bei der Berichterstattung von Selbstmorden genutzt wird, konnte leider noch nicht durchgesetzt werden.

W: Wie können Menschen mit ihren Aggressionen (die ja offensichtlich nun mal in jedem von uns schlummern) umgehen? Aus deinem Portofolio las ich raus, dass Unterdrücken zu (psychosomatischer) Erkrankung führen kann und Ausleben - was für mich eine Überraschung ist - ebenfalls nicht gut ist, da die Aggression sogar noch ansteigt. (Hab ich das wirklich richtig verstanden?!)

R.N.: Ja, das ist tatsächlich ein Dilemma. Deswegen ist es wichtig, Ärgergefühle wahrzunehmen und zu überlegen, wie die frustrierten Ziele doch noch konstruktiv umgesetzt werden können. Hierzu ist es wichtig zu lernen, sich nicht zurückzuziehen oder den anderen anzugreifen, sondern mit ihm zu sprechen und zu versuchen herauszubekommen, wie sich die eigenen Ziele und die Ziele des Kontrahenten realisieren lassen. Tatsächlich hat die Unterdrückung bereits ausgelöster negativer Emotionen negative Konsequenzen für die eigene Gesundheit, aber auch für das Zusammenleben. Unterdrückte Emotionen sind von anderen spürbar und führen zur sozialen Zurückweisung.

W: In amerikanischen Schulen geht es ja teilweise inzwischen zu wie in Hochsicherheitstrakten. Ist es sinnvoll bzw. hilft es, mit Kontrolle und Strafandrohung zu reagieren? 

R.N.: Gewaltandrohung ist eher Ursache als Lösung des Problems. Studien zeigen sehr eindeutig, dass die Wahrnehmung von Waffen aggressives Verhalten auf Frustrationen hin wahrscheinlicher macht. Die Behauptung der amerikanischen Waffenlobby, dass die Bewaffnung Amokläufe hätte verhindern können, ist vollkommen unvereinbar mit zahlreichen wissenschaftlichen Ergebnissen. Wichtig ist stattdessen die Erziehung zur Konfliktfähigkeit. Ärger ist ein ganz normales Gefühl, das einem zeigen kann, dass die eigenen Ziele als unvereinbar mit den Zielen einer anderen Person erlebt werden. Entgegen diesem unmittelbaren Eindruck kann es hilfreich sein, sich darüber Gedanken zu machen, wie beide Konfliktparteien wenigstens teilweise ihre Ziele erreichen können. Die bloße Androhung von Gewalt gegenüber der Konfliktpartei führt dagegen nur in Einzelfällen zum Ziel. Dauerhaft muss damit gerechnet werden, auf diese Weise selbst häufig Opfer von Aggressionen Anderer zu werden. Und schließlich: Wer Gewalt androht, könnte schnell in die Situation geraten, die Gewalt auch auszuüben, um glaubwürdig zu bleiben.

W: Ist es sinnvoll, bestimmte Spiele und Filme zu verbieten? Erhöht dies nicht den Reiz für Jugendliche, sich die Sachen zu besorgen?

R.N.: Wie bereits gesagt glaube ich nicht, dass Verbote geeignet sind, um den Konsum solcher Medien einzudämmen. Wichtiger ist die Aufklärung. Dazu müsste klar werden, warum es für jeden Einzelnen besser ist, gewaltfreie Spiele zu bevorzugen. Hierzu müsste etwa in der Schule über die Folgen von Medien mit Gewaltinhalten besser aufgeklärt werden. Videospiele können durchaus geeignet sein, kulturellrelevante Fähigkeiten und Inhalte zu erwerben. Hierzu wird in der Schule bisher meines Erachtens viel zu wenig Gebrauch gemacht. Tatsache aber ist: Wer in seiner Freizeit sehr viel Zeit mit Medien mit Gewaltinhalten verbringt, wird nicht nur mit Konflikten anders umgehen, sondern auch kulturrelevante Fähigkeiten zu wenig einüben. 

W: In dem Täter-Kapitel (Seite 28 im Buch „Der Riss in der Tafel“) wird gesagt, es sei wichtig, IN den Menschen zu schauen, statt ihn von außen zu betrachten. Wie kann Lehrern, Erziehern etc. dies vermittelt werden?

F.R.: Die Täter sahen sich subjektiv ohne funktionsfähige Beziehungen. Es gab zur Tatzeit bspw. niemanden mehr, mit dem sie über ihre Probleme
sprechen konnten. Wenn ein Jugendlicher sich absondert, sich für Waffen zu interessieren beginnt, Aufsätze über Massaker schreibt und frühere Täter verherrlicht, ist nicht nur festzustellen, dass das „bestraft“ werden soll, sondern auch, warum er das eigentlich macht. Was sind seine Motivationen, seine Phantasien? Was beschäftigt ihn und was will er damit kompensieren? In der Regel genügt schon ein Gespräch mit ihm, um dem Kern auf die Spur zu kommen.

W: Die Soziologieprofessorin Katherine Neumann sagt, es sei für Jugendliche
zu einfach, an Waffen ranzukommen. Würde sich etwas ändern durch eine Erschwernis in dem Bereich? (Ich habe den Eindruck, dass Jugendliche in der Regel keine Probleme haben, sich verbotene Filme oder Spiele zu besorgen, und das Dinge wie der „Parental Advisory“-Sticker auf CDs eher wie eine Werbung auf Jugendliche wirken).

F.R.: Wir haben schon ein vergleichsweise striktes Waffengesetz in
Deutschland. Ich persönlich habe nichts gegen eine weitere Verschärfung, das Problem bewaffneter School Shootings werden wir auf diese Weise allerdings nicht lösen. Nahezu alle Täter der weltweit über 100 durchgeführten School Shootings hatten sich die Waffen ohnehin auf  illegalen Wegen verschafft.

W: Bei dem Kapitel „Neue Medien“ ist davon die Rede, dass die Spiele immer
tabuloser werden. So gäbe es Spiele, in denen auf Kinder geschossen oder der Spieler zu Straftaten angestiftet wird. Geht der Trend weiter in diese Richtung? Werden diese Medien immer extremer?

F.R.: Leider verkaufen sich Tabubrüche sehr gut. Mit der Ankündigung immer extremerer Inhalte steigt im Falle von Spielen beispielsweise die Berichterstattung vor einer Indizierung und damit auch das Interesse. Es ist eben etwas Neues, etwas noch nicht Dagewesenes, und das ist gerade für Jugendliche naturgemäß interessant. Auch im Internet sind natürlich extremste Inhalte leicht für Jugendliche zugänglich. Ein Schutz kann hier nicht durch Verbote umgesetzt werden. Es muss zumindest auch eine effektive Medienkompetenz an Schulen vermittelt werden. Der Umgang und die Folgen extremer Inhalte dürfen nicht tabuisiert, sondern müssen thematisiert werden. Verantwortungsvoller Umgang muss erlernt werden.

W: Jugendliche sollten ein Gefühl der Verpflichtung bekommen, da sie sich
häufig vorkommen wie eine Kugel auf einem Billardtisch. Ist dies nicht ein Abbild der Gesellschaft, die derzeit sehr stark auf diese Weise funktioniert? Ist es nötig, dass sich die Gesellschaft grundsätzlich ändert?

F.R.: School Shootings sind immer auch ein Problem der Gesamtgesellschaft. Wir alle haben Jugendliche in unserer Umgebung. Wann haben Sie zum letzten Mal voller ehrlichem Interesse gefragt, wie es denen emotional geht und warum? Womit sie sich beschäftigen, was sie am Rechner eigentlich machen, wo ihre Perspektiven sind, ob sie gute Freunde haben usw.? Wir alle können den Jugendlichen in unserer Umgebung Halt und Orientierung geben. Auch wenn Jugendliche das in der Pubertät nach außen hin ablehnen, ist es immanent wichtig, ihnen das Gefühl zu vermitteln, einen Wert zu haben und einen Platz in der Gesellschaft finden zu können. Sie müssen Bezugspersonen zur Verfügung haben und Wege finden, prosozial Anerkennung bekommen zu können. Das ist nicht allein Aufgabe der Schule, sondern auch die von uns allen.


Quellen:
 Buch „Der Riss in der Tafel“ Robertz/Wickenhäuser, Springer Medizin Verlag 2007Portofolio “Aggression” Prof. Dr. Roland Neumann, Universität Dortmund„Die Wahrheit über das Massaker in Erfurt“ Rötzer 2002, Telepolis

(Gekürzte Version aus WAHRSCHAUER #56)