„Ohne Scheiß, Alter!“
24.01.2013, Kranhalle, München: Wieder Mal ist es so weit: Ich muss fürchten, dass eine Band, die ich schon seit ihrem Debütalbum höre und verehre, bald gehypt wird. Das ist mir schon mit KINGS OF LEON, MUMFORD AND SONS und zuletzt LYKKE LI (mit der furchtbaren Remix-Version von „I Follow Rivers“) passiert. Was mich daran stört? Es nervt
einfach, von irgendwelchen Hipstern die immer gleiche Frage zu hören, ob man denn die und die schon kenne, die lägen grad voll im Trend. WALLIS BIRD habe ich bisher noch nie live gesehen und so war ich überglücklich, dass sie für ihr drittes, selbstbetiteltes Album durch Deutschland tourt. Drei Tage vorm Gig muss ich mir als Wenigfernseher sagen lassen, WALLIS sei gerade bei einem Privatsender in jener Frühstückssendung aufgetreten. Ungetrübt davon freute ich mich dennoch auf ein umwerfendes Konzert, denn von WALLIS´ Bühnenaufnahmen weiß man, dass sie live fuchsteufelswild wird. Diese kleine Rakete versprüht in einem zweistündigen Gig mehr Energie und Lebensfreude als ein Steuerberater in seinem ganzen Leben.
Den Abend eröffneten der sympathische Berliner Künstler DAVID LEMAITRE und seine zwei multitalentierten Mitmusiker. Lange vor Beginn faszinierte mich schon der Aufbau der Instrumente, denn das Schlagzeug war eher ein wildes Konstrukt aus Fundsachen und Hi-Tech. Statt einer Bassdrum latschte der gutaussehende Trommler gegen einen alten Reisekoffer, der erstaunlich guten Sound erzeugte. Ans Keyboard war wiederum etwas angeschlossen, das wie eine Flaschenorgel aussah. Zuerst spielten sie ein getragenes, leises Stück mit Falsettgesang, der klarer kaum hätte sein können. Den kontrastierte das Trio mit einem fröhlichen Uptempo-Song namens „The Incredible Airplane Party“, bei dem das Xylophon der Gitarrenmelodie den nötigen Schliff verlieh und von Megan Fox die Rede war. Der Sänger mit bolivianischen Wurzeln erzählte anschließend die Vorgeschichte zum Titel „Jacques Cousteau“, der einst im Titicacasee mit dem U-Boot unbekannte Tierarten fand. Unweigerlich musste ich daran denken, dass Bolivien keinen Anschluss zum Meer besitzt und deshalb die Sehnsucht danach in der Bevölkerung sehr hoch ist. So hoch, dass es auf genanntem See sogar eine eigene Marineflotte gibt, die tagtäglich in „See“ sticht und Manöver übt. Doch zurück zum Thema: Auch mit diesem Stück bewiesen die Berliner Feingefühl für interessante Arrangements. Leider war das Publikum die ganze Zeit sehr unruhig und konnte – pardon – die Fresse einfach nicht halten. Zentrum der Unruhe war ein bayrisches Paar, das sich lautstark unterhielt und offensichtlich besoffen war. Der wandelnde Penis, also ein muskulöser Kerl mit purpurrotem Glatzkopf, und seine Freundin, die bei 12 Grad Minus im Sommerkleid erschien, pöbelten dann auch noch ein anderes Paar an und wurden aggressiv. Ich empfinde das als äußerst respektlos und werde gleich darauf zurückkommen.
Meistens interessiert es mich nicht sonderlich, wie die Musiker aussehen, die ich gern anhöre. Alles Schall und Rauch. Bis zu diesem Abend hatte ich also noch nie ein Bild von WALLIS gesehen und war angenehm überrascht von ihrer offenen, herzlichen Ausstrahlung. Noch bevor sie zu spielen begann, kündigte sie an, sie wolle kein stures Programm fahren, sondern einfach Spaß haben. Sogleich legte sie mit dem beliebten Song „Counting To Sleep“ los, der auch ihr Debütalbum eröffnet. Ohne Umschweife wirbelte die kleine Sängerin mit ihrer überdimensioniert wirkenden Akustikgitarre über ihren Bühnenteppich, auf dem mit pinkem Tape „CUNT“ geschrieben stand. Scheinbar steckte Roadie Shamus dahinter, der auch „Fuck You“ auf ihre Gitarre schrieb, wie sie später verriet. Es ging mit dem dynamischen Hit „Lalaland“ vom zweiten Album „New Boots“ weiter, ihre raue, voluminöse Stimme zersägte den Raum und das Riff polterte hinterher. Das Blut in Wallung, die Füße am Schweben. Sie schickte dann eine ruhige Nummer hinterher und brach während der ersten Strophe ab, weil das Publikum wie erwähnt einfach zu laut war. Mit der Aussage „ich bitte um etwas mehr Respekt. Ihr kommt doch nicht hier her und bezahlt Geld, um zu quatschen“ sicherte WALLIS sich einen fetten Applaus von den genervten, aufmerksamen Gästen. Das zeigte auch, dass sie ihre Songs in der Tat nicht einfach runterrasselt, sondern die richtige Atmosphäre braucht, um Gefühle in ihr Spiel und ihre Stimme zu legen. Kurz darauf verschwand das nervige Paar, weil Meister Propers Freundin schwindlig zu sein schien. Für diesen Abgang bekamen die beiden ebenfalls saftigen Beifall. Auch für Experimente und Soli war Platz: Der Drummer ist bekanntlich leidenschaftlicher Beatboxer und griff sich das Mikrofon. WALLIS wechselte ans Schlagzeug und so wurde aus dem Gig ein kleiner Exkurs in die Gefilde des Hip Hop und Reggea. Im Frage-Antwort-Spiel mit dem Publikum legte er immer verrücktere Sounds mit dem Mund vor, die kaum nachzuahmen waren und daher zu Gelächter führten. Als erste Zugabe spielte die Band dann ihren allerersten Song „Blossoms“, bei dem WALLIS den letzten Rest aus ihrem gepeinigten Kehlkopf herausholte. Den grandiosen Abschluss bot sie jedoch in Form einer a cappella-Version des Titels „In Dictum“ von ihrem aktuellen Album. Sie sang mit dem Bier in der Hand genüsslich die Strophen, im Refrain johlte dann das komplette Publikum mit – und zwar erstaunlich gut. Es klang fast wie von einem Kneipenchor einstudiert. Nach etwa zwei Stunden maximaler Power verabschiedete sich das Quintett dann herzlich. Man hat im Zusammenspiel deutlich gespürt, dass diese Musiker schon von Anfang an zusammen durch harte und schöne Zeiten gegangen sind.
WALLIS BIRD ist nicht nur eine hervorragende Live-Künstlerin, sondern auch menschlich ganz nah am Publikum, denn immer wieder bezog sie es in Songs ein oder erzählte Anekdoten aus ihrem Leben. Da war zum Beispiel die Rede einer kürzlichen Trennung, die in einer Menage à Troi endete. „Warum haben wir das nicht viel eher mal gemacht?“, resümierte sie. Unsere ungläubigen Blicke quittierte sie dann mit „Ohne Scheiß, Alter!“. All diese Geschichten trug sie in einem wilden Mischmasch aus Deutsch und Englisch vor, da sie eine Zeit lang in Mannheim lebte und an der Popakademie lernte. Und so konnte sie sich auch nicht verkneifen, den größten Hit der GRUP TEKKAN im feinsten türkischen Akzent anzustimmen. Ihr erinnert euch? „Wo bis´ du mein Sonnenlisch, isch brauche disch und vermisse disch“ und so weiter. Sie ärgerte sich, diese Nummer nicht selbst geschrieben zu haben und erntete erneut eine Menge Lacher. In jeder Hinsicht ein unvergesslicher Abend also.