anr.jpg Ein Label feiert sein zehnjähriges Bestehen!

Berlin / 18.10.2008: Angefangen hatte es damit, dass Ben und Andreas - zwei Berliner Kumpels und überaus begeisterte Plattensammler - auf die Idee kamen, selber eine Platte herauszubringen. Der Wunsch wurde so groß, dass sie bereits im Jahre 1998 ein Label dafür gründeten und ihren ersten Sampler zusammenstellten, welchen sie unter dem Namen "Ohrensausen"-Sampler veröffentlichten. Das war die Geburtsstunde von An'na Nadel Records. So nannten die beiden Vinyl-Junkies ihr Label, das dieses Jahr sein zehnjähriges Bestehen mit zwei Festivals feiert, und von uns präsentiert wird: am 21. November in der Dresdener Chemiefabrik und einen Tag später im Berliner SO36.

Die ersten fünf Jahre des Labels vergingen mit gerade mal einer bis zwei Veröffentlichungen im Jahr eher ruhig. Dann steigerte sich die Produktivität. Und seit den letzten drei, vier Jahren kommen kontinuierlich fünf bis sechs Sachen im Jahr heraus, worauf so ein kleines Label wie An'na Nadel Records durchaus stolz sein kann. Im Laufe der Zeit änderten sich natürlich einige Sachen. Zwischendurch waren auch andere Leute in das Label involviert. Außerdem zog Andreas zum Studieren nach Dresden, wo er bis heute geblieben ist. Der räumliche Abstand scheint aber für ihn und Ben glücklicherweise kein Hindernis zu sein, das Label weiter zu führen und es sich entwickeln zu lassen.

Ursprünglich träumten die beiden davon, alle Sachen nur auf Vinyl zu veröffentlichen. Doch leider sind auch sie nicht daran vorbeigekommen, CDs zu produzieren. Mittlerweile steht die CD sogar im Vordergrund und die Jungs müssen sich damit abfinden, dass sie es sich nicht leisten können von allen Sachen auch eine Vinylvariante zu machen. Denn LPs sind wesentlich teurer in der Produktion, werden aber nicht mehr so viel gekauft.

Ben: Ich glaube, da sollte man sich nicht verschließen, dass sich alles ändert und dass die meisten Leute sich das aus dem Internet holen. Man kann es eh nicht verhindern, deshalb haben unsere CDs auch keinen Kopierschutz. Wir sind auch gerade dabei, uns die technischen Dinge anzueignen, dass wir für die Leute, die Vinyl kaufen wollen, so ein Code in die LP mit reinlegen. Mit ihm können sie sich im Internet noch die MP3s runterladen. Die Leute, die eine CD kaufen, haben den Vorteil, sich die Sachen schnell auf ihren MP3-Player ziehen zu können. Und das wollen wir denen, die Vinyl kaufen, auch anbieten. Wir müssen jetzt noch schauen, wie wir das dann mit dem Speicherplatz machen.

Wahrschauer: Welche Kriterien muss man als Band erfüllen, um bei euch veröffentlicht zu werden?
B: Wir kriegen relativ häufig Material von Bands zugeschickt. Das Problem ist nur, dass wir finanziell und zeitlich sehr begrenzt sind und nur eine bestimmte Anzahl von Platten veröffentlichen können pro Jahr. Von daher müsste man schon ziemlich gut sein und uns sehr gut gefallen. Das ist das erste Kriterium, dass uns die Musik gut gefällt. Dann sollte es textlich über das Ficken-, Saufen-, Spaßniveau hinaus gehen. Muss jetzt nicht explizit politisch sein, sollte aber auch nicht irgendwelchen Stumpfsinn enthalten. Außerdem achten wir darauf, dass wir die Band vorher schon wenigstens einmal oder gern auch öfter live gesehen haben, weil wir es wichtig finden, dass die Bands live gut rüber kommen. Darüber hinaus ist natürlich noch von Vorteil, wenn uns die Leute selber sympathisch sind. Wir machen das bisher auch alles nur als Hobby und da wollen wir nicht mit Leuten zusammenarbeiten, wo das 'ne reine Geschäftsbeziehung ist oder dass sie eventuell irgendwelche Macken haben oder Starallüren oder sonst irgendwelche Arschlöcher sind. Von daher ist es schon ziemlich schwierig für irgendwelche Bands, die wir nicht kennen, eine Veröffentlichung auf unserem Label zustande zu bekommen.

Wie viele Bands nun tatsächlich aktuell bei ANR sind, ist schwierig einzuschätzen, weil die Jungs keinerlei Verträge mit ihnen machen - weder über bestimmte Zeiträume, noch über eine bestimmte Anzahl von Platten. Die Bands entscheiden selbst wann sie wieder bereit sind, eine Platte aufzunehmen oder zu veröffentlichen und setzen sich dann mit Ben und Andreas in Verbindung. Allerdings hat es sich schon eingebürgert, dass die Platten von DISTEMPER in Deutschland von An'na Nadel Records herausgebracht werden. Das Label war bisher auch an allen HAUSVABOT und WHAT WE FEEL Produktionen beteiligt, was allen Anschein nach auch in Zukunft so bleiben wird. Und da die Jungs mit den meisten anderen Bands eine freundschaftliche Beziehung haben, wird es wohl auch bei ihnen auf eine Zusammenarbeit hinauslaufen. Allerdings ist das alles auch eine Frage der Zeit, die die beiden investieren können.

B: Wir haben es innerhalb von zehn Jahren auf gerade mal dreißig Veröffentlichungen gebracht, wobei das in den letzten Jahren schon deutlich zugenommen hat. Aber wir leben ja nicht davon, es ist für uns immer noch ein Hobby. Wobei das schon ein sehr intensives Hobby ist und teilweise zeitmäßig wie ein normaler Job... Und dadurch, dass wir noch irgendwie von etwas leben müssen oder dass ich noch studiere, ‚nebenbei' sozusagen, müssen die Sachen für das Label manchmal auch hinten anstehen. Wir können auch nicht so arbeiten, wie man sich vielleicht von einem Label vorstellt, bei dem die Leute das beruflich machen.

W: Ist es euer Ziel irgendwann mal davon leben zu können?
B: Das wäre ein Traum, wenn man davon leben könnte, weil das eine Sache ist, die uns sehr Spaß macht. Aber realistisch gesehen kann man die Sache eigentlich schon abhaken. Wir sehen das an den zehn Jahren... Es wird einfach nicht dafür reichen, dass man davon leben kann. Da müsste man letztendlich vielleicht andere Bands auf dem Label haben oder ganz andere Geschäftsmodelle fahren und Kompromisse eingehen, die wir nicht eingehen wollen.

distemper-bandfoto-2007-tourpromo.jpgW: Auf eurem Label habt ihr einige russische Bands. Wie seid ihr auf sie aufmerksam geworden?
B: Das hat auch schon angefangen mit dem "Ohrensausen" Sampler. Es gab da eine Punkband, BENZOPILA FREUNDSCHAFT, von Deutschen, die in Moskau gelebt haben, als ihre Eltern dort arbeiteten. Der Sänger, Felix, ist gerade zu dem Zeitpunkt nach Berlin zurück gekommen und hat uns von BENZOPILA FREUNDSCHAFT ein Tape in die Hand gedrückt. Wir wollten die Band auf unserem Sampler haben. Dann hat sich mit Felix eine Freundschaft entwickelt und er hat uns an die russischen Bands rangeführt. Er kannte die Szene da sehr gut und hat uns die ersten Sachen von PURGEN vorgespielt usw. Dann war ja direkt die zweite Veröffentlichung die PURGEN LP "Toxidermists". Über PURGEN sind wir dann auf DISTEMPER gestoßen, weil der Schlagzeuger von DISTEMPER zu dem Zeitpunkt bei ihnen mitgespielt hat. Zu WHAT WE FEEL sind wir gekommen, weil Igor von WHAT WE FEEL als Merchandiser und tanzender Hund immer bei den DISTEMPER Touren dabei war. Das sind die drei russischen Bands, die bei unserem Label sind.

Das wird wohl auch in Zukunft ähnlich laufen, weil die Nachfrage in Deutschland schon begrenzt ist, auch wenn die russischen Bands sich nicht hinter den westeuropäischen oder amerikanischen zu verstecken brauchen. Sogar WHAT WE FEEL lassen sich hier nicht gut verkaufen, Ben und Andreas haben sie dennoch gerne auf ihrem Label, weil sie hundertprozentig hinter der ganzen Sache stehen. Außerdem ist es den beiden gerade bei den russischen Bands wichtig, die Leute persönlich zu kennen, um einschätzen zu können, dass sie wirklich korrekt sind, weil die Szene dort noch ziemlich undurchschaubar ist.

W: Bei eurem Festival ist es aber schon so, dass die beiden russischen Bands die Headliner sind.
B: Ja, DISTEMPER und PURGEN. Bei PURGEN war es so, dass sie schon in Deutschland auf Tour waren, bevor wir mit den die erste LP gemacht haben. Felix hatte sie für ein paar Konzerte geholt. Die hatten also vorher schon einen gewissen Namen in Deutschland. Die erste LP hat sich auch wahnsinnig schnell ausverkauft. Und bei DISTEMPER ist es einfach so, dass sie sich durch ihre Musik sehr hervorstechen. Die sind, meiner Meinung nach, mit eine der besten Skapunk Bands, die es gibt und haben auch eine unglaubliche Liveshow. An DISTEMPER und PURGEN kommen auch nicht viele andere russische Bands ran.

W: Ja klar, aber auf eurem Festival spielen Bands aus Frankreich, aus Deutschland und aus Russland.
B: Also ich denke, dass da DISTEMPER schon am meisten ziehen und sie stehen deshalb als Headliner ganz oben. Wir arbeiten mit ihnen auch schon sehr lange zusammen. Die anderen Bands sind uns natürlich auch sehr wichtig, z.B. aus Frankreich SKANNIBAL SCHMITT und MALA SUERTE. Aber mit denen arbeiten wir aber noch nicht so lange zusammen und haben noch nicht so viele Veröffentlichungen rausgebracht. Von MALA SUERTE, die mit ihrem Latinska durchaus auch als Headliner bei dem Festival auftreten könnten, ist gerade erst die CD rausgekommen (26. September).

W: Organisiert ihr auch die Deutschlandtouren für eure Bands?
B: Wir haben bis jetzt für DISTEMPER und PURGEN immer die Touren gemacht, in Deutschland und teilweise auch im anderen europäischen Ausland. Für die französischen Bands machen wir auch ein bisschen das Booking, aber ich bin gerade dabei, das eventuell abzugeben an eine Bookingagentur, weil wir es zeitlich nicht schaffen, uns um alle Bands gleichermaßen zu kümmern. Und wollen wir uns in Zukunft wieder mehr auf DISTEMPER konzentrieren.

W: Plant ihr jedes Jahr eine Tour?
B: DISTEMPER würden zwar gerne jedes Jahr kommen, nur haben wir in den letzten sechs Jahren jedes Jahr 'ne ziemlich lange Tour gemacht und deshalb gibt es dieses Jahr in Deutschland nur diese beiden Konzerte auf unseren Festivals in Dresden und in Berlin. Sie werden dann trotzdem zwei Wochen auf Tour in Osteuropa und in Österreich sein. Und 'ne richtige Deutschlandtour von DISTEMPER wird es 2009 wieder geben.

W: Ist es schwerer ein Festival zu machen als eine normale Tour?B: Ja, es nimmt schon viel mehr Zeit in Anspruch das alles zu organisieren. Es ist ja das erste Mal, dass wir so was in so einer Größenordnung machen. Man muss viel mehr Werbung machen für solche Geschichten. Es gibt jetzt auch 'ne extra Homepage für die beiden Festivals, einen richtigen Kartenvorverkauf und alles Mögliche. Natürlich, je mehr Bands beteiligt sind, desto mehr muss man mit ihnen auch koordinieren. Man kann die Leute auch nicht alle privat unterbringen. Da muss man irgendwie Hotel buchen usw. Also ist es ziemlich viel Aufwand dafür, dass es zwei Festivals sind.

wwf-logo-02-4c.jpgBei dem Festival in Berlin wird es voraussichtlich eine ein- bis eineinhalbstündige Infoveranstaltung über russische Antifaschisten vor dem Konzert geben, wobei die Leute vom SO36 den Organisatoren da sehr entgegen kommen, indem sie während der Infoveranstaltung alle ehrenamtlich arbeiten werden. Bei dieser Veranstaltung werden vielleicht auch die Leute von WHAT WE FEEL mitwirken. Sie werden zu dieser Zeit sowieso in Deutschland sein, um beim Festival mitzufeiern. Und als Zugabe wird es am 21. November 2008, einen Tag vor dem Berliner Festival, ein WHAT WE FEEL Konzert im Supamolli geben.

W: Warum wollt ihr die Leute gerade über die russische Antifa informieren und nicht über die französische z.B.?

B: Das hat damit zu tun, dass ich in den letzten Jahren eine Soligruppe für russische Antifaschisten engagiert habe. Wir haben auch diese russischen "Good Night White Pride" T-Shirts entworfen, die wir für die russische Antifa auf Touren von DISTEMPER, PURGEN und WHAT WE FEEL verkauft haben. Letztendlich ist es ein persönliches Anliegen. Klar kann man auch über die Situation in Frankreich informieren, aber ich denke mal, die Antifas in Russland haben einfach viel größere Probleme (Anm.: Siehe dazu das ausführliche Interview im aktuellen WAHRSCHAUER #56) und brauchen da wesentlich mehr Unterstützung. Von daher wollen wir diese Plattform, wenn schon so viele Leute da sind, auch nutzen, um diese informieren zu können. So können auch Kontakte entstehen und Leute fühlen sich angesprochen, sich zu engagieren.

Näheres zu den beiden Festivals und den einzelnen Bands gibt's auf www.anr-music.org, von wo aus man auf die ANR Homepage oder auf eine extra Festivalhomepage weitergeleitet wird. Dort gibt es neben diversen Infos auch Hör- und Videokostproben von allen Bands, einen Shop, in dem man alle möglichen LPs, CDs, DVDs, Klamotten und sonstige Merchartikel erwerben kann, und viele mehr. Reinschauen lohnt sich.