Verfassungsschter_unter_VerdachtDeutsche Behörden sind Teil des Naziproblems

Berlin: Das Titelthema der aktuellen WAHRSCHAUER Ausgabe #61 lautet „Nationalsozialistisches Mordkommando feat. Verfassungsschutz“. Das ist keine Übertreibung. Im Gegenteil. Die Enthüllungen der letzten Wochen werden immer verrückter. Sogar eine Strafverfolgungsbehörde steckt mitten im Nazisumpf. Zeit für ein Update.

Die Druckerfarbe an der neuen WAHRSCHAUER-Ausgabe war Anfang Juli noch nicht getrocknet, da erbettelte sich der Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm den frühzeitigen Ruhestand und flüchtete damit vor dem eigenen Sumpf in seiner Behörde. Wenige Tage vorher war folgende Ungeheuerlichkeit bekannt geworden: Genau am 11. November 2011, an dem Tag, an dem die Existenz des neonationalsozialistischen Mordkommandos öffentlich wurde, vernichtete Fromms Referatsleiter für „Forschung und Werbung“ im Bundesamt für Verfassungsschutz angeblich eigenmächtig umfangreiche Aktenbestände zur „Operation Rennsteig“ [Spiegel, 2.7.2012] . Vorher hatte er seine Mitarbeiter angewiesen, gezielt nach Akten zu suchen, in denen die Namen Mundlos, Bönhardt und Zschäpe auftauchten. Offensichtlich hatte VS-Präsident und SPD-Mann Fromm keine Ahnung, was in seiner Verfassungsschutzbehörde so vor sich geht.

Bundesamt für VS und „Operation Rennsteig“

Zwischen 1997 und 2003 hatten in der „Operation Rennsteig“ das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfVS), das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz und der Bundeswehrgeheimdienst MAD die Thüringer Neonaziszene ins Visier genommen. Auch der bayerische Verfassungsschutz war zeitweise involviert. Genau in dieser Zeit ging das aus Thüringen stammende Mordkommando in den Untergrund und verübte die ersten Banküberfälle und Morde. Auf der Liste mit 73 Zielpersonen der „Operation Rennsteig“ standen auch die Namen der NSU-Mordkommandomitglieder Mundlos und Bönhardt [TAZ, 21.6.2012] . Acht Rechtsradikale wurden vom Bundesamt für Verfassungsschutz schließlich für das geheime Unterfangen rekrutiert. Ihre Decknamen lauteten Treppe, Tobago, Tonfall, Tonfarbe, Tusche, Tinte, Terrier und Trapid. Was die Informanten berichteten, ist aufgrund der Schredderaktion beim Verfassungsschutz in der Kölner Bundeszentrale nicht mehr komplett nachzuvollziehen. Auch die Identität der Informanten ist aufgrund des Quellenschutzes der Öffentlichkeit bisher nicht bekannt. Selbst die für die Geheimdienstkontrolle zuständige Parlamentarische Kontrollkommission und der NSU-Untersuchungsausschuss wurden nicht über die Existenz der Operation „Rennsteig“ unterrichtet.



LKA Berlin und Thomas S.

Informationen über ihren V-Mann Thomas S. wurden auch vom Berliner Landeskriminalamt (LKA) zurückgehalten. Diesen Skandal erfuhr die Öffentlichkeit erst im September 2012. Neonazi Thomas S. war als „VP 562“ vom 16.11.2000 bis 7.1.2011 und damit über zehn Jahre eine „Vertrauensperson“ des Berliner Landeskriminalamtes. Insgesamt fanden 38 Treffen statt [Spiegel, 18.9.2012] . Thomas S. ist eine zentrale Person des Nationalsozialistischen Untergrunds, die das Mordkommando unterstützte. Er ist einer der Beschuldigten im laufenden NSU-Verfahren, hatte 1996 eine Affäre mit Zschäpe, beschaffte dem nationalsozialistischen Mordkommando 1,1 Kilogramm Sprengstoff und besorgte 1998 dem flüchtigen Trio in Chemnitz ihren ersten Unterschlupf bei einem Freund [Welt, 23.9.2012] .  Thomas S. soll bei seinen Gesprächen mit dem LKA Berlin insgesamt fünf Hinweise zum NSU-Trio geliefert haben. 2002, als die Mordserie der Nazis bereits lief, soll er den Berliner „Staatsschützern“ sogar einen Hinweis auf den Verbleib des NSU-Trios gegeben haben. Er würde jemanden kennen, der Kontakt zu den Dreien hätte. Diese Informationen wurden nicht weitergegeben. Die Kontaktleute des LKA hätten offenbar noch nicht einmal ihre Vorgesetzten informiert [Zeit, 18.9.2012] .  Ebenso wie das Bundesamt für Verfassungsschutz verschwieg auch das LKA Berlin seine V-Mann-Aktivitäten, selbst nachdem die Existenz des nationalsozialistischen Mordkommandos öffentlich bekannt wurde. Das vertrauliche Schreiben des Berliner Staatsschutzchefs Oliver Stepien vom 3.4.2012 an die Bundesanwaltschaft belegt laut Spiegel, dass das LKA die Akten nicht an die Bundesanwaltschaft übergeben wollte, weil sonst eine „Einsicht des Untersuchungsausschusses des Bundestags in die Akten nicht ausgeschlossen werden“ könne [Tagesschau, 23.9.2012] .

VS Sachsen und Abhörmaßnahme „Terzett“


Der nächste „Informations-Gau“ im Nazi- und Behördensumpf ereignete sich Mitte Oktober 2012. Diesmal bekam die konservative Welt des Springerkonzerns Kenntnis von streng geheimen Akten. Demnach hatte das Sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (VS) im Mai 2000 die Abhörmaßnahme „Terzett“ gestartet, die erst formal im November 2010 beendet wurde [Welt, 13.10.2012] . Interessant ist, dass die sogenannte G-10-Maßnahme, bei der es zur Aufhebung des Brief- und Postgeheimnisses sowie zur Überwachung der Telefonanschlüsse kommt, nur beim militanten Extremismus und zur Spionageabwehr eingesetzt wird. Der VS-Sachsen begründete den Antrag für den Lauschangriff, der von der Parlamentarischen Kontrollkommission überprüft wird,  mit den Worten: „Die Betroffenen stehen im Verdacht, Mitglieder einer Vereinigung zum Begehen von Straftaten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und schwerer rechtsextremistischer Straftaten zu sein und drei flüchtige Straftäter in der Illegalität zu unterstützen.“  Die Abhörmaßnahme betraf Thomas S., Mandy S., Jan W., Andreas G. und das NSU-Trio selbst.
Das kann man als Volltreffer bezeichnen. Offenbar wussten die sächsische Behörde im Jahr 2000 schon genauestens über das NSU-Umfeld Bescheid. Drei der vier Abgehörten aus dem direkten Unterstützerumfeld sind heute Beschuldigte im NSU-Verfahren. Jan W. war Chef des Blood & Honour-Netzwerkes in Sachsen und soll dem Trio eine Schusswaffe besorgt haben [siehe Schwerpunktartikel im aktuellen WAHRSCHAUER Magazin, Ausgabe #61]. Thomas S., den Sprengstofflieferanten, haben wir ja schon im Zuge seiner Tätigkeit als Informant für das Berliner LKA kennengelernt und Mandy S. ermöglichte es Beate Zschäpe ihre Identität anzunehmen. Außerdem überredete Mandy S. 1998 ihren damaligen Freund dazu das flüchtige Nazi-Trio für zwei Monate in seiner Wohnung in Chemnitz wohnen zu lassen. Mandy S. war laut Recherchen des Spiegels Ende der 90er Jahre im Neonazinetzwerk Blood & Honour aktiv und lernte Jan W. kennen. „Zeitweise wird das Haus in Chemnitz, in dem Mandy S. wohnt, überwacht. Laut Ermittlungsakten sollen ihr Zschäpe und Böhnhardt am 29. September 2000 einen Besuch abgestattet oder zumindest ihre Wohnung aufgesucht haben.“ [Spiegel, 13.3.2012]

Laut Die Welt Online belegen die geheimen Unterlagen, dass der sächsische VS im Laufe des Lauschangriffs  weitere Anhaltspunkte für den Verdacht auf schwere Straftaten erhielt. Nachdem drei der ersten vier Morde des NSU-Trios in Nürnberg und München stattfanden, konsultierten die sächsischen Geheimdienstler sogar 2003 ihre Kollegen vom VS in Bayern [Die Welt, 13.10.2012] . In der Regel erfolgt nach drei Monaten eine Benachrichtigung der von G-10-Maßnahme betroffenen Personen. In diesem Fall erfolgte sie wegen andauernder Ermittlungen über Jahre hinweg nicht. Stattdessen wurde die Maßnahme immer wieder verlängert. Trotzdem sollen angeblich nur solch „vielsagende“ Erkenntnisse wie „Es geht den Dreien gut“ zutage gefördert worden sein - was vollkommen unglaubwürdig erscheint. Selbst die stockkonservative Zeitung Die Welt fragt sich: „Was veranlasste die kontrollierenden Parlamentarier der G-10-Kommission, die Verlängerungen der Aktion immer wieder durchzuwinken?“ Die Journalisten fragten direkt beim sächsischen VS nach und erhielten selbstverständlich keine Antwort.

Western von gestern in Thüringen

Inzwischen werden die Anekdoten im Zusammenhang mit dem Verfassungsschutz und den NSU-Morden immer absurder. Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) wollte Anfang Oktober 2012 ungefähr 800 ungeschwärzte Akten, den kompletten Aktenbestand zum »Phänomenbereich Rechtsextremismus« aus den Jahren 1991 bis 2002 des Thüringer Verfassungsschutzes, an den NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin liefern. Doch Geibert misstraute seinem eigenen Landesamt für Verfassungsschutz: „Geibert sagte in einem Telefonat mit dem Vorsitzenden des Gremiums, Sebastian Edathy (SPD), er habe sich Sorgen gemacht, daß bei einer Akten-Vorauswahl durch den LfV Bestandteile hätten verschwinden können, wie die taz (Freitagausgabe) unter Berufung auf eine Gesprächsnotiz berichtet. In diesem Zusammenhang soll laut einem Vermerk Edathys auch der Begriff »Sumpf« gefallen sein. Das Kopieren der Akten sei daher auch nicht von Mitarbeitern des Landesamtes übernommen worden, sondern von 80 Bereitschaftspolizisten, sagte Geibert demnach.“ [jungeWelt, 12.10.2012]

Offensichtlich führte dieses couragierte Vorgehen des Innenministers zu Panikattacken bei den Verfassungsschutzämtern in der ganz Deutschland. In einer hektisch einberufenen Telefonkonferenz wurden Möglichkeiten zum stoppen des Transports beraten, als der LKW sich schon bereits auf dem Weg befand [Tagesschau, 11.10.2012] .  „Nach Informationen des MDR hatten Verfassungsschutzämter mehrerer Länder mehrmals nach der genauen Route der Lkw nach Berlin gefragt. Da das Thüringer Innenministerium aber befürchtet habe, dass der Transport gestoppt werden sollte, seien keine Informationen weitergegeben worden. Ein Ministeriumssprecher sagte zudem der Nachrichtenagentur DAPD, Vertreter mehrerer Länder hätten sich in einer Telefonkonferenz konkret erkundigt, ob das Thüringer Ministerium noch Kontakt zu den Transportern habe und sie möglicherweise zur Umkehr bewegen könne.“ [MDR, 10.10.2012]

Vorläufiges Fazit

Dieser Fall wird immer verrückter. Selbst mit Verschwörungstheorien ist der Fall kaum noch zu fassen. Deutsche Behörden wollten offensichtlich die Morde weder aufdecken noch verhindern. Sie sind ein Teil des Naziproblems.

Siehe auch weitere Artikel online:

Verfassungsschutz und Nazi-Mordkommando – Teil 2

Verfassungsschutz und Nazi-Mordkommando - Teil 1

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