„Ultrarechte waren von Anfang an bei den Protesten aktiv“
WAHRSCHAUER: Bitte stell deine Gruppe kurz vor. Wo agiert ihr und wie?
Alex: Wir sind eine Anarcho-Syndikalistische Organisation, die im Jahr 2011 gegründet wurde. Wir
sind in Kiew und in Kharkov aktiv und haben einige Sympathisanten in anderen ukrainischen Städten, auch auf Krim. Einige unserer Mitglieder sind aus der studentischen Bewegung gekommen und einige sind libertäre MarxistInnen. Wir haben seit Jahren erfolgreich gegen das neoliberale Arbeitsgesetz gekämpft sowie zahlreiche Aktionen für die Versammlungsfreiheit und gegen Polizeigewalt durchgeführt. Außerdem haben wir die Schwerpunkte Unterstützung der Anarcha-Feministischen Initiativen sowie Kampf gegen die Klerikalisierung und die Faschisierung der Ukrainischen Gesellschaft.
W: War der Auslöser der Proteste in Kiew, und später auch im Rest des Landes, das Kippen des Abkommens zwischen der Ukraine und der EU oder gibt es eine weniger bekannte Vorgeschichte?
A: Ja, der Auslöser der Proteste war dieses EU-Abkommen. Aber das war nicht der einzige wirkliche Hintergrund: Die Leute sind seit Jahren über die Polizeigewalt, Korruption, schlechte Infrastruktur und die soziale Spaltung sauer geworden. Leider nimmt der Protest in der Ukraine nicht die soziale, linke und libertäre Richtung, sondern die liberale und nationalistische. Der rechte Diskurse dominiert überall - in Medien, in der Schule, in der offiziellen staatlichen Propaganda. Deswegen sind bei uns die Revolution und die Reaktion immer stark vermischt.
W: Unter die DemonstrantInnen hatten sich (ultra-)rechte Gruppen gemischt. War das schon von Anfang an so?
A: Leider ja. Ultrarechte waren von Anfang an bei den Protesten aktiv. Sie sind zwar momentan noch eine Minderheit, aber eine gut organisierte Minderheit. Und unsere Gesellschaft hat keine “Impfung” gegen die Nationalisten. Viele Liberale verwenden dieselbe Rhetorik wie die Nazis. Sie spielen auf dieselben geschichtlichen Vorbilder an usw. Es war nicht möglich die Nazis aus den gesellschaftlichen Protesten auszugrenzen.
W: Wo kommen die rechten Bewegungen her? Wer unterstützt sie? Und sind sie in Parteien organisiert?
A: Man muss beachten, dass es zwei ultrarechte Bewegungen in der Ukraine gibt: Pro-russische und Pro-ukrainische. Sie kämpfen auch gegeneinander. Die Pro-ukrainischen Bewegungen sind in der Westukraine und in Kiew am stärksten, die Pro-russische in der Ostukraine und auf der Krim. Die westukrainischen Nazis haben sogar eine parlamentarische Partei (Swoboda). Die russischen sind politisch nicht so erfolgreich, aber sie haben eine starke Lobby in der Partei der Regionen gehabt und jetzt bekommen sie massenhaft Unterstützung aus Russland.
W: Gab es linke, kommunistische und anarchistische Strömungen bei in den Protesten? Und wenn ja, wo kommen sie her?
A: Man muss unterscheiden zwischen den Protesten vor und nach dem 16. Januar. Am Anfang haben einige Sozialdemokraten versucht am Protest teilzunehmen, aber sie wurden von den Ultrarechten angegriffen und rausgedrückt. Einige linke studentische AktivistInnen waren zwar aktiv, aber haben ihre politischen Ansichten nicht öffentlich gezeigt. Ich finde eine solche Taktik nicht effektiv. Unsere Organisation hatte sich von Protesten ferngehalten, wenn wir unsere Agitation nicht öffentlich betreiben dürfen. In Kharkov hatten die Anarchisten nicht nur am Protest teilgenommen, sondern die Ultrarechte sogar rausdrücken können. Als die sogenannten Diktaturgesetze verabschiedet wurden, haben sich viele Linke und AnarchistInnen dem Protest in irgendeiner Form angeschlossen, weil es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur um die “Eurointegration”, sondern um das Überleben der politischen Freiheit ging. Als am 18. Februar dann auch noch rund 100 Menschen durch Scharfschützen ermordet wurden, hatten wir die letzte Möglichkeit verloren uns aus dem Protest auszuschließen, obwohl wir ziemlich skeptisch gegenüber den meisten Parolen und Forderungen des Protestes sind.